Kapitel1
Arian
Das Gewicht der Gitarre ruht schwer auf meinem Brustkorb. Die Melodie, die meine Finger wie im Schlaf auf den warmen Saiten spielt, füllt meinen Körper, bis es nur noch dieses Lied gibt. Bis ich eins werde mit den Klängen jahrelanger Musikgeschichte. Bis ich nicht mehr daran denken muss, was ich vor nicht allzu langer Zeit verloren habe. Der Sound meiner Akustikgitarre ist mir so vertraut, wie seine Stimme, die jetzt nur noch eine blasse Erinnerung ist.
Ich fange an zu singen. Leise. Aber laut genug, dass ich nicht mehr daran denken muss, dass ich vor einem halben Jahr meinen Vater verloren habe. Dass ich seither ein Leben lebe, das sich anfühlt als würde es nicht mir gehören. Bei jeder weiteren Zeile wünsche ich mir, ich könnte wieder zurück. Zurück zu dem Tag, als mir meine Stiefmutter noch in die Augen gucken konnte. Zurück zu dem Moment, als wir eine Familie waren.
Ich kämpfe mich durch das Lied, weil mir das Atmen plötzlich schwerfällt und meine Fingerspitzen zu schmerzen beginnen.
»Hast du auch noch andere Stücke in peto, Cobain?« Ihre Stimme erschreckt mich so sehr, dass ich vergesse umzugreifen und ein ätzender Ton in der kleinen Kammer, die seit einigen Monaten mein Zimmer ist, zu hören ist. WobeiZimmer in dem Fall eine absolute Übertreibung ist. Ich bezeichne es eher als Loch mit einem kleinen Fenster. Manchmal frage ich mich, ob der Brief der Zauberschule, der mich aus meinem elendigen Leben befreit, noch kommt. Vielleicht klopft auch irgendwann ein Filmteam an unsere Haustür, um eine moderne Aschenputtel-Verfilmung abzudrehen. Aber es sammeln sich weder irgendwelche Eulen vor unserem Haus, noch singt jemand im HintergrundOnly time, wenn ich durch die Schulflure streife. Ich hatte einfach Pech und das ist kein modernes Märchen, sondern mein verdammtes Leben.
»Was willst du?«, entgegne ich, halte den Blick aber weiterhin auf die Decke über mir gerichtet.
»Dich aus deinem Niemandsland holen.« Dann greift Alexis einfach nach meiner Gitarre, legt sich ungefragt neben mich und beginnt irgendeinen fetzigen Song zu spielen. Lexi ist eine meiner Stiefschwestern. Die Nettere der beiden.
»Was machst du hier?«, hake ich nach. Sie legt die Gitarre weg und dreht sich zu mir.
»Du hast eben so verloren gewirkt, als du gegangen bist … ich fands nicht in Ordnung, was Hanna gesagt hat.« Dabei funkelt sie mich entschuldigend aus ihren schlammbraunen Augen an. Eigentlich war es nicht anders als sonst. Ihre Zwillingsschwester und ich haben immer schon Differenzen. Als Hanna heute aber gesagt hat, dass sie sich wünscht, ich würde einfach wieder nach Hamburg verschwinden, bin ich aufgesprungen und gegangen, anstatt etwas zu erwidern.
»Du hättest nicht vorbeikommen müssen«, entgegne ich und rutsche ein Stück von ihr weg.
»Doch. Ich habe ihr auch gesagt, dass sie sich entschuldigen soll. Aber … Warum ist das so zwischen euch?«
Wenn ich ihr das beantworten könnte, würde ich es wahrscheinlich auch schaffen eines der sieben ungelösten Millennium-Probleme der Mathematik zu lösen.
»Keine Ahnung«, erwidere ich.
»Ich lasse ihr das auf jeden Fall nicht mehr durchgehen. Ich will nicht, dass du dich hier unerwünscht fühlst«, entgegnet Alexis entschlossen und fährt sich durch ihre braunen, kurzgeschnittenen Haare.
»Ich schaffe das schon allein.« Ich will mich auf gar keinen Fall zwischen die beiden stellen. Wir schweigen einen Moment, bis ihr Räuspern die Stille durchbricht.
»Ich werde auch nochmal mit Mama sprechen«, flüstert sie und ihre Worte treffen mich. Ich weiß, dass sie ihre Mutter li