Morgens erwachte ich in diffuser Stimmung. Ich duschte, ich trank einen schnellen Kaffee, ich sah, dass die junge Frau in der Wohnung schräg gegenüber im Nachtgewand barfuß durch ihre Küche lief. Eine Fleischfliege krachte brummend gegen das Fenster. Mir fiel ein, dass Hanna in der frühen Pubertät versucht hatte, Fliegen mit bloßen Händen zu schnappen. Irgendwann einmal war es ihr zufällig gelungen, eine Fliege beim Abheben zwischen ihren Handflächen einzufangen. Ab da hatte sie an ihre Fähigkeit geglaubt, schnell genug zu sein, um spielend Fliegen zu erhaschen, obwohl ich ihr erklärt hatte, dass Fliegen mit ihren Facettenaugen die Bewegung unserer Hände gewissermaßen wie in Zeitlupe verfolgten und sich daher rechtzeitig aus dem Staub machen konnten. Ob meine Fliegenflugerklärung naturwissenschaftlich gesehen richtig gewesen war, wusste ich bis zum heutigen Tag nicht. Hanna hatte monatelang ihr Fliegenfangspiel fortgesetzt, bis sie begann, Wespen in Marmeladegläser zu sperren und in Gefangenschaft zu beobachten.
Ich ließ die Fliege in Ruhe. Obwohl alles für ein Frühstück in der Wohnung vorrätig war, ging ich aus dem Haus. Ein schöner Spätsommertag hatte begonnen, in einer Bäckerei bestellte ich Kaffee und eine Buttersemmel, die ich im Stehen aß. Ich hatte die irrwitzig egomanische Vorstellung, jemand könnte mir gratulieren, so wie man einem neugebackenen Vater zu seinem Nachwuchs gratulierte. Ich war über Nacht nicht Vater geworden, wohl aber Bruder eines Bruders. Eines offenbar älteren Bruders. Beim Aufstehen hatte ich das Foto noch einmal analysiert. Da lachte mein Vater vom Bildschirm, es war verrückt. Der Erwachsene in mir begriff bald, dass die Gratulationen ausbleiben würden. Die Verkäuferinnen in der Schnellbäckerei waren freundlich wie immer, aber sie gratulierten mir natürlich nicht. Nach dem Frühstück erfasste mich eine Stimmung nervöser Planlosigkeit, in der ich nicht in die Wohnung zurückgehen wollte, obwohl es jetzt endgültig Zeit war, die Unterlagen für die Lehrveranstaltungen durchzugehen. Die Nachricht von gestern hatte mich aber in einer Weise durchgerüttelt, dass ich, so kann man sagen, ordentlich durcheinander war.
Über die Jahre hatte ich mir ein System vorauseilender Schutzgedanken aufgebaut. Ich neigte dazu, jederzeit mit allem zu rechnen. Genauer gesagt, ich hatte Angst davor, ständig mit allem rechnen zu müssen, auch mit dem Schlimmsten. Ich malte mir aus, wie ich reagieren würde, wenn etwas sehr Schlimmes eintrat. Ich überlegte, wie ich mich am besten von vornherein so verhielt, dass das Schlimme nicht geschah. Oder, falls ich das Schlimmste nicht verhindern konnte, dass ich mich wenigstens so weit wappnete, dass ich es nicht mehr als das Schlimmste auffassen musste, weil ich ja bereits damit gerechnet hatte.
Im Internat hatte ich mir einmal in der morgendlichen Eile mit einer erst neu angeschafften Brille am Kopf die Haare gekämmt und die Brille in