Soranas Vermächtnis
Mirianda eilt die Stufen in den Garten hinab. Beachtet weder die Rosen und wilden Orchideen noch den Sommerflieder. Ihr Blick fixiert die schwarzgekleidete Frau, die mit geschlossenen Augen vor dem herb nach Rosmarin und Salbei duftenden Kräuterbeet steht. Schwer atmend, mit vom Laufen geröteten Wangen, stoppt sie vor der Alten. »Willkommen!«, grüßt sie atemlos.
Die Heilerin öffnet die Augen. Mustert Mirianda mit durchdringendem Blick. Eine Energie silbrig, kalt und gleißend, bohrt sich in sie hinein. Tastet ihren Körper Faser für Faser ab. Verbindet sich mit der tief in Miriandas Seele schlummernden Kraft. Die feinen Härchen auf ihrer Haut stellen sich auf wie kleine Fühler. Wie aus weiter Ferne hört sie eine Melodie, fremd und doch vertraut. Ein längst in ihr wohnendes Wissen regt sich wie ein schlafendes Tier, kurz vor dem Erwachen. Ein tiefes Grollen steigt aus Miriandas Körper empor, löst sich auf in einem heftigen Rülpser. Beschämt senkt sie den Blick. Die Magie des Augenblicks verpufft. Die Betagte lacht leise. Mirianda stimmt befreit in das Lachen ein. »Herzlich Willkommen!«, wiederholt Mirianda ihre Begrüßung und reicht der Alten die Hand.
»Sei gegrüßt, Tochter der Sorana! Ich bin die Heilerin Saragunde, die Letzte vom Geschlecht der Merowinger, Vertraute deiner Mutter und Überbringerin ihrer Botschaft.« Mit diesen Worten deutet sie eine Verbeugung an, öffnet für einen Moment ihren Umhang. Ihr vom Leben gezeichnetes Gesicht leuchtet heller als tausend Kerzen und ihre gestrenge Miene wird weich. Erstaunt folgt Miriandas Blick dem ausgestreckten Arm der Heilerin, der gen Himmel weist. Ein kleines Loch in der Wolkendecke reißt auf. Ein Stück belebendes Blau wird sichtbar. Eine Farbe von einer Klarheit, wie sie das in der ewigen Dämmerung aufgewachsene Mädchen nie zuvor sah. Die Wolken ziehen schnell darüber, verschließen, was sich für einen kostbaren Augenblick zeigte. Mirianda steht da, mit geöffnetem Mund und starrt zum Himmel hinauf. Ein leises Krächzen lenkt ihre Aufmerksamkeit wieder zurück. Eine Krähe hockt auf der Schulter Saragundes, putzt mit spitzem Schnabel ihr glänzendes Gefieder.
Die Heilerin schließt ihren Umhang. »Gesegnet seiest du Mirianda, für jetzt und auf immer!« Mit diesen Worten fließt ein schimmerndes Nebellicht aus ihrem Mund, legt sich wie ein zartes Band um die Frauen.
Mirianda hört sich selbst antworten: »Gesegnet seiest du Saragunde, für jetzt und auf immer!«
Der silbrige Schleier wird mit jedem Atemzug durchlässiger. Legt sich wie ein lebendiger Stoff über ihre Haut und dringt in ihre Poren ein, löst sich in ihr auf. Voller Freude, leicht und im Wesen mit Saragunde verbunden atmet sie befreit auf.
Sie folgen dem von Frühlingssternen gesäumten Weg, bis zum mit Blumengirlanden festlich geschmückten Gartenpavillon. In der Ferne türmen sich dunkle Wolken, begleitet von einem dumpfen Grollen. Ein Schwarm der schwarz Gefiederten kreist über ihnen am Himmel. Die Vögel schlagen aufgeregt mit den Flügeln, krächzen in wildem Crescendo. Die Krähe auf Saragundes Schulter tippelt erregt hin und her. Die Heilerin greift sich das Tier, murmelt ein paar unverständliche Worte, küsst es auf den Schnabel. »Flieg mein Liebster. Flieg. Die Zeit ist nah!« Sie öffnet die Hände. Der Gefiederte schwebt noch einen Augenblick über ihren Köpfen, entfernt sich und verschwindet im Schwarm seiner lärmenden Artgenossen.
Die beiden Frauen setzen sich im Pavillon einander gegenüber auf die mit weichen Kissen bezogenen Hochstühle. Saragunde nickt Mirianda aufmunternd zu. Diese rutscht auf ihrem Stuhl nach vorn. »Bitte, erzähl mir von Sorana. Wie war meine Mutter? Habt ihr euch gut gekannt? Hat sie sich auf mich gefreut? War sie wirklich die Schönste aller Frauen, so wie Halamor es behauptet? Hast du…«
Mit einer abwehrenden Handbewegung stoppt Saragunde Miriandas Redeschwall. Sie gießt sich aus der Tonkaraffe ein wenig Wasser in den Glaskelch, nimmt einen Schluck. Richtet sich auf und atmet