: Nastassja Martin
: An das Wilde glauben
: Matthes& Seitz Berlin Verlag
: 9783751800181
: 1
: CHF 7.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 139
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Auf einer Forschungsreise wird Nastassja Martin von einem Bären gebissen und schwer verletzt. In aufwühlenden Worten erzählt sie von der Geschichte dieses Kampfes und von ihrer Genesung. Die Anthropologin Nastassja Martin teilt in dieser packenden autobiografischen Erzählung die Geschichte einer tiefen Verletzung und ihrer Heilung. Auf einer ihrer oft monatelangen Forschungsreisen auf die von Vulkanstümpfen durchzogene russische Halbinsel Kamtschatka, wo sie die Bräuche und Kosmologien der Ewenen studiert, taucht sie tief in deren Kultur ein und beginnt intensiv zu träumen. Nach einer Bergtour begegnet sie einem Bären: Es kommt zum Kampf, er beißt sie ins Gesicht und die 29-Jährige gerät in einen Zustand versehrter Identität. Was sie zuvor als Wissenschaftlerin beschrieben hat - die animistische Durchmischung von allem - erfährt sie nun am eigenen Leib. Die Grenzen zwischen dem Bären und ihrer selbst, oder dem, was früher sie selbst war, verschwimmen. Träume und Erinnerungen lassen Nastassja Martin umfassende Heilung in sich selbst und der Wildnis finden, in die sie nach einer qualvollen Genesungsgeschichte in russischen und französischen Krankenhäusern zurückkehrt.

Nastassja Martin, 1986 in Grenoble geboren, ist Anthropologin und Schriftstellerin. Die Schülerin Philippe Descolas ist Spezialistin für die Kosmologien und Animismen der Völker Alaskas und veröffentlichte vor ihrem ersten Roman, der großes Aufsehen erregte, u. a. mit Les âmes sauvages, ein Buch über die Widerständigkeit der Inuit gegen die Zivilisation.

WINTER


Die Salpêtrière also. Wie kann ich die Bilder von diesem Ort aufrufen, der meine Zuflucht hätte sein sollen und sich als Tiefpunkt meiner Höllenfahrt erwiesen hat? Vielleicht der Reihe nach. Kaum hat man mich alleingelassen, gehe ich ins Bad und nehme den Verband um meinen Kopf ab. Ich habe meinen Schädel noch nicht gesehen. Der Mull fällt auf das orangerote Linoleum. Ich schaue auf den Boden. Dann traue ich mich, ich hebe langsam den Kopf, starre in den Spiegel. Meine Haare sind jungenhaft geschoren, es ist fast ein Bürstenschnitt. Die roten Narben im Gesicht sind noch etwas geschwollen, die auf der Kopf haut verschwinden allmählich unter dem dunklen Flaum meiner nachwachsenden Haare. Ich breche zusammen und lasse meinen Tränen freien Lauf. Ich weine wie ein verlassenes kleines Mädchen, ich weine um alles, was nicht zu vermeiden war, ich weine um meinen Bären, um mein verlorenes früheres Gesicht, mein früheres Leben, das sicher auch verloren ist, ich weine um alles, was nie wieder sein wird wie vorher. Ich fahre mit der Hand über meine Haarstoppeln. Bei der Berührung spüre ich dieses komische Kitzeln auf dem Schädel und bekomme Lust, es wieder und wieder zu tun. Ich rufe mich ins Leben zurück. Ich stehe auf, schaue mich noch einmal im Spiegel an, drehe mich um, drücke die Klinke der Badtür herunter und beschließe, dem neuen Krankenhaus mit diesem Gesicht entgegenzutreten.

Da es ein Bär ist, der durch meinen Körper in die Salpêtrière Einzug hält, und zudem noch ein russischer Bär, bringt das Krankenhauspersonal sämtliche Sicherheits- und Vorsorgemaßnahmen zum Einsatz: Ich bin in Quarantäne. Die Grünpflanze und die Kascha von Petropawlowsk sind weit weg, hier versteht man in Sache Hygiene und Sicherheit keinen Spaß. Jedes Mal, wenn die Krankenschwestern mein Zi