: Johanna Dürrholz
: Die K-Frage Was es heute bedeutet, (k)ein Kind zu wollen
: Duden
: 9783411913213
: Duden - Sachbuch
: 1
: CHF 12.60
:
: Gesellschaft
: German
: 208
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Entscheidung für oder gegen ein eigenes Kind ist - vor allem für Frauen - inzwischen häufig mit Erwartungsdruck, Zweifeln und einem Gefühl der Überforderung verbunden. Da geht es um alte und neue Rollenbilder, um die viel diskutierte Work-Life-Balance. Oder um die Frage, was eigentlich egoistischer ist: ein weiteres Kind in diese sowieso schon übervolle und krisengebeutelte Welt zu setzen oder sich bewusst kinderlos nur sich selbst zu genügen. Johanna Dürrholz eröffnet ein breites Spektrum an Perspektiven auf das Thema. Sie spricht mit Müttern - auch bereuenden -, Vätern und überzeugten Fortpflanzungsgegnern. Mit ungewollt Kinderlosen und mit Co-Eltern, die ein neues Modell von Familie leben. Mit Reproduktionsmedizinern und Biologen, aber auch mit Freundinnen und ihrer Familie. Dabei wird deutlich: Im Meer der Möglichkeiten bleibt die Entscheidung schwer. Und zugleich ist die Antwort auf die Kinderfrage niemals losgelöst vom gesellschaftlichen Rahmen.

Johanna Dürrholz, geboren 1989, ist seit 2017 Redakteurin im Ressort Gesellschaft bei FAZ.NET und schreibt zudem regelmäßig im Ressort 'Leben' der 'Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung'. Davor arbeitete sie als freie Online-Redakteurin für den Westdeutschen Rundfunk. Sie lebt in Köln. Dies ist ihr erstes Buch.

Reproduktion

Andreas Schmutzler war einer der ersten Gynäkologen, der in Deutschland Spermien in eine Eizelle injizierte; das war 1993. Er hatte die Methode in den Vereinigten Staaten erlernt. In Deutschland hagelte es Kritik, seine Kollegen riefen ihn empört an, die Gynäkologie stand kopf. Wie Schmutzler das tun könne? Habe er keine Werte? Keine Moral?

Die ethischen Bedenken von damals sind heute nicht mehr so groß. Viele Deutsche denken immer später ans Kinderkriegen. Von Schmutzlers Patientinnen sind 50 Prozent über fünfunddreißig Jahre alt, ihre Chance auf eine Schwangerschaft sinkt, medizinisch gesehen, jedes Jahr um zwei Prozentpunkte. Er hat natürlich auch männliche Patienten, doch deren reproduktive Probleme lassen sich leichter lösen. In der Regel sind es heterosexuelle Paare, die Schmutzler in seiner Kinderwunsch-Praxis aufsuchen.

Ich habe Andreas Schmutzler schon vor einiger Zeit kennengelernt, am Telefon. Damals schrieb ich, vielleicht ein bisschen naiv, einen Zeitungsartikel über die philosophischen Konsequenzen des Kinderkriegens und die Unmöglichkeit dieser lebensverändernden Entscheidung. Mein Fazit: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Andreas Schmutzler schrieb mir seinerzeit eine Mail: »Sehr geehrte Frau Dürrholz, mit großem Interesse habe ich Ihren Artikel gelesen. Gut geschrieben, sympathisch auf den ersten Blick, aber ich würde aus meiner umfangreichen Erfahrung Ihnen gerne etwas dazu sagen. Es wäre sehr nett, wenn Sie mich einmal kurz auf dem Handy anrufen würden – jederzeit! HG, Ihr Andreas Schmutzler.«

Derweil trudelten in der Redaktion Leserbriefe ein, echte, handgeschriebene Leserbriefe, der Artikel ging außerdem hinter der Paywall online, und ich bekam plötzlich Mail um Mail um Mail. Von Männern, die mich als dumm beschimpften. Von Frauen, die mich verstehen konnten und nach mehr Informationen fragten. Von Lesern und Leserinnen, die sich bedankten, sich empörten, sich Gedanken machten und von ihrer eigenen Erfahrung berichteten.

In diesem Schwall Leserpost (die in diesem Ausmaß leider keinesfalls üblich ist) kam auch die Mail von Dr. Schmutzler, und so ist es vielleicht verständlich, dass ich nicht sofort antwortete. Er rief mich schließlich an. »Sie sollten möglichst jetzt schon ein Kind bekommen«, ertönte es am anderen Ende der Leitung. Auch mein Hinweis, dass ich gerade im Ausland sei (nicht, dass man da keine Kinder zeugen könnte), kümmerte ihn nicht. Er erzählte von seinen eigenen Kindern, seinen Ansichten.

Etwa ein Jahr später fahre ich zu Dr. Schmutzler in die Kinderwunschpraxis, nach Göttingen. In seinem kleinen, sterilen Besprechungszimmer, in dem er sonst unglückliche Kinderlose berät, liegen jede Menge Broschüren: »Kinderwunsch. Leitfaden«, »HPV-Impfung«, »Unser Weg zum Wunschkind«. Aber auch: »Rauchfrei – ich will es schaffen«. Passend dazu rekelt sich auf einem Schwarz-Weiß-Bild über Schmutzlers Schreibtisch eine nackte Frau, die Brustwarzen sind durch die angezogenen Beine verdeckt, in der Hand und vor den Lippen hält sie – eine Zigarette. Nun ja. In meinem Wollpullover, es ist immerhin Dezember, schwitze ich stark; Schmutzler lehnt sich im Poloshirt entspannt zurück. Sein Mitteilungsbedürfnis ist, wie ich schnell merke, nicht geringer geworden. Ob er zunächst seine medizinischen Fakten darlegen dürfe? Ja, gerne. Daraufhin redet er 45 Minuten am Stück. Was er mir berichtet, ist aber auch sehr interessant.

Dr. Schmutzlers medizinische Realität sieht so aus: Täglich kommen Frauen zu ihm, Paare, die sich Kinder wünschen, bisher aber keine bekommen konnten. Im Erstgespräch ruft er dreißig bis vierzig Parameter ab: Hat das Paar schon Kinder? Wie