: Marica Bodro?i?
: Pantherzeit Vom Innenmaß der Dinge
: Otto Müller Verlag
: 9783701362875
: 1
: CHF 16.20
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: Erzählende Literatur
: German
: 200
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als im Frühling 2020 die Welt zum Stillstand kam und auch die Erde durchzuatmen schien, las Marica Bodro?i? zwei Monate lang auf ihrem Balkon jeden Abend Rilkes Gedicht 'Der Panther'. Wilder als alles Vergängliche, schreibt sie, der eigenen Eingesperrtheit zum Trotz, sei der Wunsch des Menschen in Freiheit zu leben. Was aber können wir tun, wenn wir gar nichts mehr tun können? Dieser hybride Text tastet die seelischen Landschaften ab, die nur ein radikaler Rückzug möglich macht. Offenbar werden dabei nicht nur die eigenen schmerzverzahnten Lebensthemen, sondern auch die daraus funkensprühende Sprache der Transzendenz. Marica Bodro?i? ist schreibend den kathartischen Weg der Mystiker und Philosophen gegangen und hat, auf den geistigen Spuren u. a. von Teresa von Avila und Vladimir Jankélévich, den Eingang in ihre 'innere Burg' gefunden. Entstanden ist dabei eine philosophische Reflexion über die Kraft der Grenze und des Schweigens, über Nähe und Liebe, über die Erfahrung von körperlichem Schmerz und die hinter dem Schmerz sprechende Syntax der Heilung. Dieser Essay ist Anrufung und Gebet, eine Feier der Langsamkeit und Genauigkeit, ein Niederknien vor der Gnade und den Verwandlungen des Lebens. Hellfühlig, rigoros, poetisch und politisch zugleich erzählt dieser Text davon, auf welche Weise jeder einzelne Mensch zählt und dass sein Wert nicht verhandelbar ist.

Bodro?i?, Marica 1973 im Hinterland von Split in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen, Essays, die sich stets im Resonanzraum von Ethik und Ästhetik bewegen und aus einem geistig ausgerichteten Sprachbewusstsein schöpfen. Seit ihrem Debüt 'Tito ist tot' (2002) sind zahlreiche Bücher erschienen, die sich mit Gedächtnis und Erinnerung, Philosophie und Mystik auseinandersetzen. Dafür wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem European Prize for Literature (2013), dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2015) und zuletzt (2020) mit dem Walter-Hasenclever-Literaturp eis für ihr Gesamtwerk. Marica Bodro?i? lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie ist Mitglied des Deutschen PEN-Zentrums.

Die Busse in meiner Straße fahren seit Tagen leer an unserem Haus vorbei. Sie sehen unwirklich aus, wie etwas Artifizielles, gut Gemachtes aus einem japanischen Zeichentrickfilm, von einnehmender Echtheit und doch so surreal, als würden auch sie jetzt lange üben müssen, um wieder das werden zu können, was sie sind. Der Sonntagmorgen ist erfüllt vom Vogelgesang. Die Bäume erwachen wipfelweise in ihrem Grün. Es ist ein farbiger Segen für meine Augen. Die Natur übernimmt die Luft. Meine Gebete aus dem Jahrhundertsommer in der Zeit meiner Schwangerschaft, in der jedes unnatürliche Geräusch eine Qual war, sind also auf überraschende Weise erhört worden. Mein Bitten und auch einst ein verzweifelttrotziges Weinen – dass die Autos verschwinden und ich die Amseln, Spatzen und Spechte hören kann, war existenziell. Es tut weh, dass mir dieser Wunsch auf diese Weise erfüllt worden ist. Wie oft habe ich mir noch in den beiden Sommern davor meine Stadt als Pionierin vorgestellt, die mit der enormen visionären Energie vieler Freiwilliger die (nur noch in bürokratischen Abläufen denkenden) Politiker dazu bringen würde, die Autos aus den Wohngebieten zu verbannen, und an den Straßen Obststände und neue Cafés zu eröffnen, und andere urbane Lebensräume zu schaffen, die mit der Natur verbunden sind. Aber Berlin schafft es nicht einmal dann, neue Radwege anzupassen, wenn mehrere Menschen von Lastwagen immer wieder an einer Stelle überfahren werden und ihr Tod auf ein Umdenken pocht. Obststände hingegen sind wahrscheinlich im Vergleich zu den wirklich lebensnotwendigen Radwegen noch utopischer – was auf den ersten Blick keinen Nutzen verspricht, wird zynisch abgefertigt. Vor meinem inneren Auge tauchen bei diesem Gedanken jene ganz anders lebenden Aprikosenverkäufer auf, die ich vor vielen Jahren in Usbekistan auf der alten Seidenstraße zwischen Taschkent und Fergana ins Herz geschlossen hatte, ihre herrlichen Gewänder, bunt bestickt, die fröhlichen Brotverkäuferinnen, die sich selbst bei Minus fünfzehn Grad zu keinerlei Launenhaftigkeit hinreißen ließen und sich mit ihrer Kraft und Zielgerichtetheit in mich und mein Innenland einschrieben, als wären wir den Sprachen und Ländern zum Trotz, die uns trennten, für immer miteinander verbunden und verwandt. Heute weiß ich, dass wir über diese Verwandtschaft immer verfügen, dass sie unsere geistige Bestimmung ist und dass jede in Würde und Ehrlichkeit gelebte Kraft sich in uns vervielfacht und in anderen spiegelt, sich in alles einschreibt, dem wir begegnen. Es trennt uns nichts voneinander. Wir gehen einander in Gedanken und Taten voraus, und nun pflücken wir die Birnen, Kirschen und Pflanzen des gemeinsam erschaffenen Bewusstseins, auf das wir jetzt, in der Absonderung voneinander, intuitiv zurückgreifen, weil wir nicht mehr unruhig oder lustvoll oder hungrig oder sehnsuchtsvoll umherwandern und einander umarmen können.

Durch die Gitterstäbe der nach innen verlagerten Z