SHERLOCK HOLMES UND DIE KÖNIGLICHEN GÄRTEN
Im Südwesten von London, in Kew, befinden sich die königlichen botanischen Gärten. Es handelt sich um eine immense Parkanlage, mit künstlichem See, chinesischer Pagode und einer Vielzahl hübscher Gärtnereiarbeiten. Die Prunkstücke dieser weitläufigen Anlage sind jedoch die mächtigen temperierten Gewächshäuser, beeindruckende Konstruktionen aus Stahl und Glas, Sinnbilder der englischen Ingenieurskunst. Im Umfang vergleichbare tropische und subtropische Glashäuser gibt es lediglich in München und Wien, während das Berliner Pendant, dessen Skelett unsinnigerweise aus Holz errichtet worden war, zurecht ein Raub der Flammen wurde.
Was genau Holmes und mich nun eigentlich hierher verschlagen hatte, muss man folgendermaßen erklären, denn es handelte sich nicht um einen beruflichen Auftrag: Dr. Kurzmann, der sich zur therapeutischen Aufarbeitung meiner Erlebnisse vom Highgate-Friedhof meines Seelenlebens angenommen hatte, erachtete es als genesungsfördernd, wenn ich mindestens einmal wöchentlich einen geruhsamen Ausflug aufs Land oder an die Küste unternehmen würde. Als pflichtbewusster Freund hatte sich Holmes bereiterklärt, mich zu begleiten – allerdings machte er keinen Hehl daraus, dass dies widerwillig geschah. Da weder das Meer noch die englische Landbevölkerung zu seiner bevorzugten Umgebung gehörten, blieb Kew Gardens als eine Art Kompromiss. Holmes war dennoch ungehalten.
Wir befanden uns gerade auf dem Weg zum zentralen Palmenhaus, das zwischen 1841 und 1849 errichtet worden war und in dem tropische Pflanzen angesiedelt und gezogen wurden, als ich einen optimistischen Versuch unternahm.
»Nun, Holmes«, begann ich nach Minuten des Schweigens neuerlich ein Gespräch, »Was sagen Sie nun zu dieser prachtvollen Parkanlage?«
Holmes blieb stehen und drehte sich langsam um die eigene Achse, bis er mir wieder gegenüberstand. »Mein lieber Watson«, sagte er schließlich mit einem überraschenden Lächeln, »Sie erinnern sich doch noch daran, dass ich gesagt habe, dieser Ausflug würde mir bestimmt nicht gefallen?«
»Ja, natürlich«, antwortete ich erwartungsvoll.
Holmes blickte nochmals nach rechts und links, während seine Miene wieder ernste Züge annahm: »Ich hatte recht«, meinte er und setzte den Weg schnellen Schrittes fort.
Schlagartig wurde mir wieder bewusst, dass ich mir eigentlich untersagt hatte, falsche Hoffnungen zu hegen. Ich lief ein paar Schritte hinterher, bis ich mit Holmes wieder auf gleicher Höhe war.
»Aber Sie müssen doch zugeben«, keuchte ich, »dass die Gärten Ihrer Majestät in ihrer geordneten Vielfalt, in ihrer erstaunlichen Grazie und ihrer schieren Unbegrenztheit eine äußerst passende Metapher für das britische Empire darstellen.«
Holmes blieb abermals stehen. »Wenn Sie nach der Substanz des Empires suchen«, erklärte er, »dann halten Sie lieber Nachschau in walisischen Kohlebergwerken, in den Schiffswerften von Liverpool, den Textilfabriken von Manchester, den Stahlwerken von Glasgow oder den Kanonengießereien von Newcastle. Sollten Sie jedoch auf einer botanischen Allegorie beharren, so böte si