Mentalisieren in der psychotherapeutischen Praxis Konzept und Umsetzung aus einer Hand
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Jon G. Allen, Peter Fonagy, Anthony W. Bateman
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Mentalisieren in der psychotherapeutischen Praxis Konzept und Umsetzung aus einer Hand
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Klett-Cotta
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9783608201222
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1
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CHF 49.50
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Angewandte Psychologie
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German
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478
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Wasserzeichen/DRM
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PC/MAC/eReader/Tablet
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PDF
Die Einsatzmöglichkeiten: - Intervention bei bestimmten Störungsbildern wie Trauma und Borderline -Persönlichkeitsstörung - Arbeit in Familien und mit Eltern - Im Feld der sozialen Arbeit und der Anwendung in gesellschaftlichen Kontexten, etwa im Rahmen der Gewaltprävention oder in der Auseinandersetzung mit globalen Konflikten ZIELGRUPPE: - PsychotherapeutInnen aller Schulen - PsychoanalytikerInnen - Kognitive VerhaltenstherapeutInnen Mentalisieren bezeichnet - die Fähigkeit, das Verhalten anderer Menschen mit Bezugnahme auf ihre Grundhaltungen, Emotionen und Absichten zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren, - das Wissen um die psychischen Beweggründe des eigenen Verhaltens. Mentalisierungsfähigkeit kann trainiert werden. Sie ist ausschlaggebend für die Organisation des eigenen Selbst und die Regulierung der Affekte.
Jon G. Allen, Ph. D., ist Professor für Psychiatrie am Menninger Department of Psychiatry and Behavioral Sciences am Baylor College of Medicine an der Menninger Klinik in Houston, Texas.
Vorwort Der Ochsenkarren Ein philosophisches Rätsel aus der Antike lautet: »Was ist der wichtigste Teil eines Ochsenkarrens?« Die meisten Menschen antworten: »Die Räder.« »Der Ochse.« »Der Karren.« »Der Fuhrmann.« »Die Achsen.« »Das Geschirr, in das der Ochse gespannt wird.« Und so weiter. Ein erfahrener Psychoanalytiker versuchte es scherzhaft mit: »Die Peitsche.« Meine Lieblingsantwort lautet: »Das Konzept eines Ochsenkarrens.« Eine bessere Antwort auf die Rätselfrage kann es meines Erachtens nicht geben, denn sie zeigt, wie wichtig und wie wirkmächtig Konzepte sein können - obwohl man sie weder sehen noch anfassen und auch mit der funktionellen Magnetresonanztomographie nicht abbilden kann. Damit kommen wir direkt zur nächsten Frage: »Wodurch zeichnet sich ein spezifisches Konzept im Universum der Konzepte aus, was macht es wertvoller als andere Konzepte?« Ich denke, dass sich der Wert eines Konzepts nach vier Aspekten bemisst: 1. nach seiner klaren Definition, 2. nach seiner Nützlichkeit, 3. nach seiner Überlebensdauer und 4. nach seinem Potential, als Grundlage künftiger Konzepte zu dienen. Wenden wir diese vier Aspekte auf den Ochsenkarren an: Die Verbindung von vier Rädern durch zwei Achsen, die unter einer hölzernen Kiste befestigt werden, und die Verbindung der mit Rädern versehenen Kiste mit einem Ochsen ist eine klare Begriffsdefinition (Aspekt 1); für den Transport von Personen und Gütern bestimmt (Aspekt 2); 3000 Jahre nach seiner Erfindung noch heute in vielen Teilen der Welt im Gebrauch (Aspekt 3). Darüber hinaus hat der Ochsenkarren Weiterentwicklungen erfahren und noch wirkmächtigere Konzepte entstehen lassen (Aspekt 4) - zum Beispiel den Personenkraftwagen und den Lastwagen, gleichfalls vierrädrige Fahrzeuge, die für den Transport von Personen und Gütern bestimmt sind, durch eine Antriebskraft meist im vorderen Teil bewegt und durch einen sitzenden Menschen gesteuert werden. Bitte beachten Sie, dass ich weder »Originalität« noch »Neuheit« als Bedingungen für das Potential oder den Wert eines Konzepts erwähnt habe. Vielmehr gehen bedeutende Konzepte aus bereits vorhandenen hervor - wie dem der Räder, Kisten, Joche und der Verwendung von Tieren zu Transport- und Arbeitszwecken. Ich glaube, dass die wertvollsten Konzepte tatsächlich eine so hohe Kontinuität mit vorgängigen Konzepten aufweisen, aus denen sie hergeleitet sind, dass sie, wenn sie erstmals auftauchen, gar nicht originär oder neu zu sein scheinen. Was ist neu? Seit ich vor über 30 Jahren meine psychiatrische Facharztausbildung antrat, habe ich an ungefähr 1500 Fallkonferenzen teilgenommen. Zu den Fallvorstellungen, an die ich mich ganz besonders gut erinnere, zählt eine Präsentation von Aaron T. Beck während meiner Assistenzzeit am Columbia University's New York State Psychiatric Institute - mehrere Jahre bevor er 1979 sein bahnbrechendes Werk Cognitive Therapy of Depression veröffentlichte. Auf diesen Fallkonferenzen beschrieb Beck die kognitive Verhaltenstherapie als ein neues psychotherapeutisches Verfahren, zu dessen zahlreichen Vorteilen unter anderem die Überprüfbarkeit seiner Effektivität zählt. Beck besaß tatsächlich die Kühnheit zu behaupten, dass er einen neuen und besseren Ochsenkarren erfunden habe. Meine Erinnerung an dieses Ereignis ist aber weniger durch die Originalität und weitreichende Relevanz des Themas seiner brillanten Präsentation bestimmt als vielmehr durch die hitzigen Reaktionen der zahlreichen Teilnehmer, die genau das Gegenteil behaupteten: »Nichts daran ist wirklich neu. Wir alle tun in unserer täglichen Praxis nichts anderes.« »Aaron schüttet ja nur alten Wein in neue Flaschen.« »Die kognitive Behandlung bildet die Grundlage aller psychotherapeutischen Verfahren.« »Ich glaube, er macht aus einer ganz einfachen Sache etwas Hochkompliziertes.« Als ich Jon Allen, Peter Fonagy und Anthony Bateman auf einem Symposium in Houston vor etlichen Jahren zum ersten Mal über »Mentalisierung« sprechen hörte, fiel mir eine gleichsam unheimliche Ähnlichkeit zwischen den emotionalen Reaktionen und Bemerkungen ihrer Zuhörer und der Resonanz auf, die Aaron Beck vor Jahrzehnten ausgelöst hat. Eingedenk der Veränderungen, die Becks Arbeit auf dem psychotherapeutischen Sektor und für die Menschen, denen wir dienen, angestoßen hat, sensibilisierten mich diese Reaktionen für die Möglichkeit, dass Allen, Fonagy, Bateman und all die übrigen Kollegen, die mit dem Konzept »Mentalisieren« arbeiten, möglicherweise einer sehr wichtigen Sache auf der Spur waren. Becks neues Konzept hat zweifellos alle vier Kriterien, an denen sich jeder neue »Ochsenkarren« messen lassen muss, erfüllt. Wenden wir dieselben Kriterien nun auf das Mentalisieren an, wie es in diesem neuen Band von Allen, Bateman und Fonagy beschrieben wird. Kriterium 1: Klarheit der Definition Mein erstes Kriterium für das Potential und den Wert eines neuen Konzepts ist die Klarheit der Definition. In der Einleitung zu diesem Band formulieren die Autoren eine prägnante und luzide Definition des Mentalisierens; im nächsten Atemzug werfen sie ihren potentiellen Kritikern den Fehdehandschuh hin: »Wir behaupten kühn, dass das Mentalisieren - die aufmerksame Beachtung und Reflexion des eigenen psychischen Zustands und der psychischen Verfassung anderer Menschen - der grundlegende gemeinsame Faktor psychotherapeutischer Behandlungen ist und dass infolgedessen jeder, der auf dem Sektor der psychischen Gesundheitsversorgung arbeitet, von einem gründlichen Verständnis des Mentalisierens und einiger seiner klinischen Anwendungsmöglichkeiten profitieren wird«(S. 21). Die Verfasser stehen auch nicht an zu behaupten, »dass das Verständnis des Mentalisierens sowie seines zentralen Rangs Klinikern und Patienten hilft, aus jeder psychotherapeutischen Behandlungsmethode das Beste zu machen. Das gesamte Buch ist darauf angelegt, diese Behauptung zu untermauern.« (S. 22). Anders formuliert: Die Verfasser erklären keck, einen neuen und besseren Ochsenkarren erfunden zu haben. Wie wir am Beispiel Becks sahen, ruft diese Behauptung eine reflexartige Ungläubigkeit hervor, in die sich oft auch Gereiztheit ob einer solchen Provokation mischt. Ich vermute, dass sich die Leser dieselbe Frage stellen werden wie ich selbst: »Wollen die Autoren etwa behaupten, dass das Verstehen und die Anwendung des Mentalisierungskonzepts für die Psychotherapie elementarer und wichtiger seien als das therapeutische Bündnis oder die Fähigkeit des Patienten, Bindungen einzugehen, zu abstrahieren, rational zu denken oder objektiv zu sein? Wollen die Autoren sagen, dass das Mentalisieren so grundlegend ist, dass es eine konstitutive Komponente des therapeutischen Bündnisses, der Bindung und wesentlicher kognitiver Fähigkeiten darstellt?« Die Autoren rechnen natürlich mit solchen Fragen und halten den Widerständen eine etwas ausführlichere Definition entgegen: Der springende Punkt beim Mentalisieren ist das Sich-Vergegenwärtigen psychischer Vorgänge . [...] Wir mentalisieren, wenn wir einen psychischen Zustand in uns oder anderen wahrnehmen - zum Beispiel, wenn wir über Gefühle nachdenken. [...] Wir definieren »Mentalisieren« als imaginatives Wahrnehmen oder Interpretieren von Verhalten unter Bezugnahme auf intentionale mentale Zustände. (S. 23) Diese Definition fordert den Leser zweifellos zu gründlichen Überlegungen heraus und verlangt den Autoren weitere einleuchtende Erklärungen ab - diese Aufgabe haben sie im ersten Teil des Buchs, »Das Mentalisieren verstehen«, auf bewundernswerte und erfolgreiche Weise gelöst. Um auch den Leser zu einem solchen Verständnis hinzuführen, begleiten sie ihn auf einer weitläufigen Tour durch das faszinierende Gebiet der integralen Facetten des Mentalisierens, ein Terrain, auf dem sich neue und nirgends sonst mögliche Ausblicke eröffnen, Ausblicke auf die Imaginationskraft, die Achtsamkeit, die Geistesblindheit, das Gedankenlesen, die Metakognition, die emotionale Intelligenz, die Einsicht, Urheberschaft, mentale Repräsentation, Bindung und intergenerationelle Weitergabe - auf all dies erhält der Leser klare Sicht, und all dies wird erforscht. Eine Stärke dieses Buchs ist das Geschick, mit dem die Autoren wesentliche Komponenten der mentalisierungsgestützten Therapie mit aufschlussreichem klinischen Material verbinden - geeignet, das therapeutische Instrumentarium des Lesers direkt zu verbessern und zu erweitern. Als Neuropsychiater, der seinen Beruf liebt, und Mitglied der American Neuropsychiatric Association war ich über das 4. Kapitel, »Neurobiologie«, natürlich hocherfreut. Ich halte die hier formulierten Überlegungen, die sich auf die neuesten entwicklungspsychologischen und neurowissenschaftlichen Kenntnisse stützen, für eine entscheidende Komponente sowohl der hier vertretenen Thesen über das Mentalisieren als auch seiner Definition. Die Autoren scheuen nicht davor zurück, ihr Mentalisierungskonzept durch die Brille der modernen Evolutionstheorie, der strukturellen Neurobiologie, der Neuropsychologie und Neurochemie zu untersuchen und kritisch zu beleuchten. Auch Leser, denen dieses Terrain nicht gründlich vertraut ist, gelangen in den Genuss einer brillanten, fesselnden Beschreibung eines der spannendsten und verheißungsvollsten Gebiete der biologischen Wissenschaften. Zudem wirft die Neuropathologie seit jeher Licht auf die normative Hirnaktivität (zum Beispiel hat die Erforschung der durch Schlaganfälle hervorgerufenen Beeinträchtigungen entscheidend zu unserem Verständnis der regionalen Hirnfunktionen beigetragen). Die Untersuchung emotionaler Dysfunktionen, fehlgeschlagener Sozialisationsprozesse, die Erläuterungen über die Bindung und über interpersonale Beziehungen - mit speziellem Blick auf »Mentalisierungsstörungen« wie den Autismus und die Soziopathie - haben die Grenzen unseres Verständnisses erweitert. Unter dem Strich betrachtet, ist es den Autoren in den Kapiteln 1 bis 4 famos gelungen, mein erstes Kriterium, die Klarheit der Definition, und damit die Voraussetzung für die Einführung eines potenten und wertvollen neuen Konzepts zu erfüllen. Kriterium 2 Mein zweites Kriterium für die Beurteilung des Potentials und des Werts eines neuen Konzepts ist sein nachgewiesener Nutzen. Der zweite Teil, »Das Mentalisieren praktizieren« - der annähernd 40 Prozent des gesamten Bandes ausmacht -, ist ebendiesem Nachweis gewidmet. Weil Jon Allen, Peter Fonagy und Anthony Bateman meisterliche Kliniker sind, können sie aus einer Fundgrube an aktuellen, einschlägigen Erfahrungen mit mentalisierungsgestützten Behandlungen schöpfen. Sie haben sich vorgenommen, dem Leser zu zeigen, »wie sich die Theorie in die Praxis übersetzt« (S. 201), und sie lösen diese Aufgabe auf staunenswerte Weise. An den Anfang stellen sie ein Bekenntnis: Das praktizierte Mentalisieren ist nämlich »eine Kunst [...] und keine Wissenschaft« (S. 201). Wir alle wissen, wie schwierig es ist, eine »Wissenschaft« zu lehren; noch schwieriger aber ist es, zu lehren, wie man eine Fertigkeit zur »Kunst« kultivieren kann. Dementsprechend steht das erste Kapitel des zweiten Teils unter der Überschrift: »Die Kunst des Mentalisierens«. Die Autoren erläutern, wie sie zwischen Wissenschaft und Kunst in der psychotherapeutischen Praxis unterscheiden: Wir zweifeln keineswegs daran, dass das Systematisieren für die Durchführung psychotherapeutischer Behandlungen von Belang ist; ohne Fachkenntnisse, ohne Prinzipien und ohne Strategien muss der Prozess scheitern, weil dann jede Orientierung fehlt. Und natürlich ist das Systematisieren auch für die Forschung unerlässlich, ohne die wir unsere Effektivität nicht verbessern können. Der Interaktionsprozess aber bedarf der minuziösen empathischen Einfühlung. (S. 204) Ich stimme vorbehaltlos zu, dass die optimale empathische Einfühlung im psycho therapeutischen Setting einer »Kunst« nahe kommt. Sodann lassen die Autoren eine versierte Exegese der Kunst des Mentalisierens folgen, die sie mit Auszügen aus den Schriften Daniel Sterns illustrieren. Ich hatte die Ehre, von Dan Stern während meiner Assistenzzeit supervidiert zu werden - und erlebte einen Therapeuten, der fürwahr ein Künstler ist. Jede Kunst ereignet sich innerhalb bestimmter Grenzen, sei es der Rahmen der Leinwand oder die Auslinie, die bei zahlreichen sportlichen Disziplinen nicht überschritten oder überspielt werden darf. Die Autoren versehen die Praxis des Mentalisierens mit einer solchen Struktur, indem sie ihren therapeutischen Kollegen nachdrücklich raten, eine formale »mentalisierende Fallformulierung« zu verfassen, zahlreiche technische Aspekte mentalisierungsgestützter Behandlungen erläutern und praktische Tipps geben, die die Anwendung des Konzepts in der »täglichen« therapeutischen Praxis erleichtern. Einzigartig, bewegend und überzeugend ist der hier abgedruckte Be'sche kognitive
Mentalisieren in der psychotherapeutischen Praxis
1
Inhalt
6
Vorwort
8
Vorbemerkung
16
Dank
20
1. KAPITEL Einleitung
22
ERSTER TEIL Das Mentalisieren verstehen
48
2. KAPITEL Mentalisieren
50
3. KAPITEL Entwicklung
109
4. KAPITEL Neurobiologie
158
ZWEITER TEIL Das Mentalisieren praktizieren
200
5. KAPITEL Die Kunst des Mentalisierens
202
6. KAPITEL Mentalisierende Interventionen
218
7. KAPITEL Die Behandlung von Bindungstraumata
275
8. KAPITEL Mutter-Kind-Therapie und Familientherapie
308
9. KAPITEL Borderline-Persönlichkeitsstörung
332
10. KAPITEL Psychoedukation
372
EXKURS Was ist Mentalisieren und warum ist es wichtig?
392
11. KAPITEL Soziale Systeme
404
Epilog
426
Glossar
432
Literatur
436
Register
472