: Peter Rosei
: Das Märchen vom Glück
: Residenz Verlag
: 9783701746545
: 1
: CHF 13.50
:
: Erzählende Literatur
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Lena aus dem steirischen Dorf, Andràs aus dem ungarischen Plattenbau, Eva Bartuska aus der Brünner Vorstadt - sie alle suchen in Wien ihr Glück. Angetrieben von den Versprechen sozialen und ökonomischen Aufstiegs und dem Traum von der großen Liebe, lassen sie sich durch die große Stadt treiben. Doch was ist dieses vielbeschworene Glück? Manchmal ein Filialleiterposten, manchmal eine rauschhafte Nacht, und oftmals eine fadenscheinige Illusion, die an der alltäglichen Gemeinheit zuschanden geht. Und doch wäre dieser Roman kein 'Märchen vom Glück', wenn Rosei hier nicht erstmals fast versöhnlich würde: Und so hat, wer den Niederungen des Lebens ins Auge schaut und alle Hoffnung fahren lässt, am Ende doch Anrecht auf, ja, das ersehnte Glück ...

Peter Rosei, geboren 1946 in Wien. 1968 promovierte er zum Doktor der Rechtswissenschaften. Seit 1972 lebt er als freier Schriftsteller in Wien und auf Reisen. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. Franz-Kafka-Preis 1993, Anton-Wildgans-Preis 1999, Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 2006, Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien 2007 und Großes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich 2016. Zuletzt erschienen: 'Die Wiener Dateien' (5 Bände im Schuber, 2016), 'Karst' (2018), 'Die große Straße' (2019), 'Das Märchen vom Glück' (2021).

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Lena arbeitete als Altenpflegerin. Sie war nicht diplomiert und machte ihren Job nur so. Wie sie später dem András erzählen sollte: »Meine erste Stelle hatte ich bei einer alten Dame in der Inneren Stadt. Ich musste ihr fast jeden Tag aus den Liebesbriefen vorlesen, die sie als junge Schönheit einmal bekommen hat. Wir saßen so da am Fenster, ich ihr gegenüber, drunten der Verkehr. Da hat sie geweint – und ich bald mit ihr, was vielleicht dumm von mir war. Aber schön war es.« Dann setzte Lena gern mit verstellter Stimme nach: »Machen Sie mir bitte eine neue Windel, Frau Lena! So hat die alte Dame nach dieser Vorleserei öfter gesagt. Ich musste sie ja wickeln. Schließlich, sie war über neunzig! Sie hat mir dann eine Menge Kleider vermacht – aber was hätte ich damit schon anfangen sollen?«

Für gewöhnlich war Lena nicht sehr gesprächig. »Das Schweigen und Stillhalten hab ich mir im Beruf angewöhnt. Schließlich reden die Angehörigen laufend herein, die regen sich auf: Machen S’ dies, machen S’ das, Lena! – Da sagst du am besten gar nichts und arbeitest weiter. – Haben S’ das schon gemacht, Lena? Und jenes? – Gehst du für die alten Leute auch einkaufen, heißt es: Sie waren doch gestern erst einkaufen! Wer isst denn die vielen Semmeln, wer trinkt denn so viel Kaffee – und so weiter: Ich kann dir vielleicht ein Lied singen! Wie geizig und kleinlich manche Leute sein können.«

Lena stammte aus der Steiermark her, aus einer Ortschaft im Süden, an der slowenischen Grenze. Die Kirche am Ende der Hauptstraße war das einzige Gebäude, das da aus der Reihe tanzte: Alle anderen Gebäude glichen einander aufs Haar. Mit dem sonntäglichen Kirc