II. Ein Anfang und ein Ende der deutschen Nachkriegsliteratur
1. 1947 – Westdeutsche Neubestimmungen literarischer Autorschaft und öffentlicher Meinungsbildung
Im Herbst 1947 wollte der Schriftsteller Hans Werner Richter eine neue Zeitschrift mit dem TitelDer Skorpion herausbringen. Sie war als Nachfolgeprojekt der ZeitschriftDer Ruf gedacht, kam aber unter den Bedingungen der von den Alliierten reglementierten Lizenzpresse nicht wie geplant zustande. Die Umstände der gescheiterten Veröffentlichung sind bis heute nicht restlos geklärt. Richter selbst gibt als Grund die Verweigerung der Drucklizenz durch die Behörden in der amerikanischen Besatzungszone an:
Kurz darauf erhielt ich einen Bescheid der amerikanischen Militärregierung: Die Lizenz für die literarische Zeitschrift »Der Skorpion« wurde mir verweigert. Begründung: Nihilismus […] So waren wir ohne Zeitschrift, ohne die Möglichkeit, unsere eigenen Arbeiten zu veröffentlichen. Es blieb nur die Kommunikation im eigenen Kreis. Vorlesen und Kritisieren, […] als Ersatz für eine literarische Öffentlichkeit, die es nicht gab.[45]
In der Probenummer der Zeitschrift findet sich ein Beitrag des Schriftstellers Nicolaus Sombart mit dem TitelPublikation und Öffentlichkeit. Der Titel stand offenbar nicht von vornherein fest. Im Inhaltsverzeichnis des seinerzeit nie erschienenen Heftes, das erst 1991 als Reprint veröffentlicht wurde, trägt der Beitrag noch den TitelPublikation und öffentliche Meinung.[46] Einige Wochen zuvor hatte Richter den zu veröffentlichenden Text mit dem umgekehrt gereihten TitelÖffentliche Meinung und Publikation versehen.[47] In einem Brief vom August 1947 äußerte Richter, der einen Monat später mit einem Treffen der am Zeitschriftenprojekt beteiligten Autorinnen und Autoren die Gruppe 47 ins Leben rufen wird, die Idee, Sombarts Beitrag als »Einführungs-Aufsatz in der ersten Nummer zu bringen«.[48]
Auch wenn es nicht bei dieser exponierten Stellung von Sombarts Beitrag blieb, weil ihm in der Probenummer unter anderem Texte von Günter Eich und Wolfdietrich Schnurre vorangestellt wurden, kommt dem Aufsatz programmatische Bedeutung zu. Der Beitrag des 24-jährigen Sombart, der als Sohn des Soziologen Werner Sombart in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs im Berliner Grunewald ausgiebige Spaziergänge mit seinem väterlichen Mentor Carl Schmitt unternommen hat,[49] in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu den Gründungsautoren der Gruppe 47 gehörte und später als Mitarbeiter bzw. Leiter der Kulturabteilung des Europarats eine internationale Beamtenkarriere durchlief, stellt auf bemerkenswerte Weise literarische Autorschaft und öffentliche Meinungsbildung in einen Zusammenhang.
Ungewöhnlich ist zunächst die auf einer begrifflichen Abstraktion basierende Definition, dass die »Veröffentlichung«[50] literarischer Texte eine »Form der Kommunikation« (16) und als solche ein Bestandteil dessen ist, »was die Kultursoziologie den Zivilisationsprozeß genannt hat« (16). Im Zentrum dieser kultursoziologischen Bestimmung, die inhaltliche Aspekte und ästhetische Wertmaßstäbe bei der Beurteilung einer literarischen Veröffentlichung zunächst ausklammert, steht die Beziehung zwischen Autor und Publikum: »Leserschaft und Autor treten, auf technische Mittel gestützt, miteinander in […] Korrespondenz. Diesen gesellschaftlichen Zusammenhang nennt man dann Literatur.« (16). Die von Sombart gleich doppelt angeführte Überlegung, dass sich jede Veröffentlichung erst an ihrem Publikum »erfüllt« (16, 18), und der Gedanke, dass ein Werk, das Pu