#2Die, von der ich Stärke lernte
Ich nehme die letzten zwei Stufen mit einem Schritt, knalle den Rucksack auf den Stuhl, der gleich links neben der offenen Tür steht. Ich muss nicht mal hinsehen, die Bewegung funktioniert automatisch, Muskelgedächtnis nennt man das. Es gibt Tage, da landet er ungeachtet auf dem Kissen, ich frage dann zuerst, was es zu essen gibt, verziehe das Gesicht, falls es Linseneintopf ist (oder noch schlimmer: Gulasch), oder reagiere strahlend, wenn Pasta auf dem Speiseplan steht. Während ich den Parmesan über der Tomatensoße verteile und den ersten Bissen auf meiner Gabel aufrolle und mir in den Mund schiebe, ist mir die Welt egal. Nichts macht so glücklich wie Spaghetti all’arrabbiata, nachdem du dich durch die letzten zwei Stunden Mathe gequält hast.
Heute schmeiße ich meine Sachen fast schon von mir, zwei Bücher rutschen aus der Innentasche und fallen polternd zu Boden, ich stehe daneben und weiß nicht, was ich mit dem Rest von mir machen soll.
»Na, Kind, wie war dein Tag?«, fragt sie mit ruhiger, beschwingter Stimme, auf die ich anspringe wie ein Schießhund, der sonst kein Ziel hat.»Wie er war? Ätzend …«
Und wie ätzend er wirklich war, erzähle ich dann zwanzig Minuten lang in einem ausführlichen Monolog, führe aus, was mich so wütend macht, steigere mich in meine Emotionen hinein und finde in meiner Oma eine geduldige Zuhörerin. Es ist meine Art, den Stress loszulassen, mit Frustration umzugehen, ausgelöst durch Streit mit Freunden, mit meinen Eltern oder einfach mit Lehrern. Ich werfe mit Worten um mich, bis sie mir ausgehen – und meine Oma hört zu, nickt manchmal, zuckt manchmal mit den Schultern.
Häufig machte mich genau das nur noch wütender. Ich fand es stoisch, ich unterstellte ihr mangelnde Anteilnahme an den kleinen oder großen Themen, die mich gerade beschäftigten. Heute weiß ich, dass sie einfach nur das Kissen war, in das ich brüllte, das ich brauchte, wenn mir die Welt für einen Moment zu viel war, wenn ich sie nicht verstand, wenn sie mich nicht verstand.
Meine Oma dämpfte einfach die Wut oder den Knall für den Moment, in dem alles zu groß war, und füllte mir ganz nebenbei mein Mittagessen auf.»Na, na – das wird schon wieder«, sagte sie dann und fragte im gleichen Atemzug, ob ich noch mehr Soße haben wollte.
Natürlich wurde es wieder, aber das willst du nicht hören, wenn du gerade mittendrin steckst, wenn du dich ungerecht behandelt oder von einem Streit verunsichert fühlst, wenn du dich in eine Ecke gedrängt fühlst, wenn du hilflos bist – oder aufgebracht, weil du das Gefühl hast, dich nicht wehren zu können, wenn sich alles groß und schwer oder einfach nur überfordernd oder ermüdend anfühlt.
Da »werden« die Dinge nicht irgendwann wieder – sie sind. Deine Emotionen flüstern dir nicht zu, dass sie dich jetzt kurz aufwühlen und dann in fünf Minuten schon wieder viel leichter sind. Nein, in diesem Moment nehmen sie dich ein. Und zwar vollkommen.
Sicher, mit der Zeit lernen wir, unsere Gefühle nicht mehr einfach nur ausbrechen zu lassen, sondern begegnen ihnen mit Achtsamkeit; wir lernen, dass wir uns mit ihnen manchmal im Moment verlieren, dass wir nicht klar sehen können, wenn wir so viel fühlen, dass jede einzelne Zelle