: Michael Löwy
: Erlösung und Utopie Jüdischer Messianismus und libertäres Denken
: CEP Europäische Verlagsanstalt
: 9783863935610
: 1
: CHF 11.70
:
: Philosophie, Religion
: German
: 331
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Das Verhältnis zwischen jüdischem Messianismus und anarchistischer Utopie ist trotz seiner zahlreichen Berührungspunkte durch eine spannungsreiche Verschiedenheit unterschiedlicher Positionen gekennzeichnet. Es reicht von radikaler Unvereinbarkeit wie bei Gershom Scholem und Gustav Landauer bis hin zu wechselseitiger Befruchtung und Erhellung wie im Fall von Ernst Bloch und Walter Benjamin. Eine mögliche Verbindung dieser Pole steht und fällt mit der Überwindung des traditionellen Gegensatzes zwischen Atheismus und Religion, Materialismus und Spiritualität, Nationalismus und Romantik. Michael Löwy konzentriert sich dabei auf eine Gruppe von deutsch-jüdischen Intellektuellen (u.a. Benjamin, Kafka, Rosenzweig, Buber, Scholem, Löwenthal, Landauer, Bloch, Lukács, Fromm), deren Beiträge zu diesem Thema bis heute weitgehend unabgegolten sind.

Michael Löwy wurde 1938 als Sohn Wiener Juden in São Paulo, Brasilien, geboren. Seit 1969 lebt er in Paris. Er war Direktor der Sektion Soziologie der französischen wissenschaftlichen Forschungsgemeinschaft C.N.R.S. und unterrichtete an der École des hautes études en sciences sociales, Paris. Veröffentlichungen u.v.a. The Theory of Revolution in the Young Marx, Chicago 2005, 'Biographische Skizze' sowie 'Hannah Arendt und Walter Benjamin', in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Auseinandersetzungen mit dem zerstörten jüdischen Erbe. Franz-Rosenzweig - Gastvorlesungen 1999-2005, Kassel 2004; Ecosocialism: A Radical Alternative to Capitalist Catastrophe, Chicago 2015; Ökosozialismus. Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe, Hamburg 2016.; Rosa Luxemburg. Der zündende Funke der Revolution, Hamburg 2020.

EINLEITUNG


Die Besiegten der Geschichte


Unsere Generation wird bezahlt für ihr Wissen, denn das einzige Bild, das sie hinterlassen wird, ist das einer besiegten Generation. Dies wird ihre Hinterlassenschaft sein für die, die nach ihr kommen.

Walter Benjamin,Über den Begriff der Geschichte, 1940.

Der Begriff »Mitteleuropa« bezeichnet eine geographische, kulturelle und geschichtliche Vorstellungswelt, die durch die deutschsprachige Kultur vereinheitlicht wird: Deutschland und die Österreichisch-Ungarische Monarchie. Während eines Zeitraums, der von der Mitte des 19. Jahrhundert bis 1933 reichte, hat die jüdische Gemeinschaft Mitteleuropas eine kulturelle Blüte erlebt, die alle Kategorien sprengte, einGoldenes Zeitalter, das sich nur mit der jüdisch-arabischen Kultur des 12. Jahrhundert in Spanien vergleichen läßt. Diese Kultur des deutschen Judentums war das Produkt einer einzigartigen geistigen Synthese und hat der Welt Heine und Marx geschenkt, Freud und Kafka, Ernst Bloch und Walter Benjamin. Sie erscheint uns heute wie eine verschwundene Welt, ein Kontinent, den die Geschichte ausgelöscht hat, ein im Ozean versunkenes Atlantis mit seinen Palästen, Tempeln und Monumenten. Von der Flut des Nationalsozialismus hinweggespült, konnte sie nur im Exil überleben. Ihre Vertreter wurden in alle Winde zerstreut. Die letzten Überlebenden, die letzten Funken eines gewaltigen geistigen Feuers, sind vor kurzem erloschen: Marcuse, Fromm, Bloch.

Doch in dem, was unser 20. Jahrhundert an kulturellem Reichtum und geistiger Erneuerung hervorgebracht hat, haben sie bleibende Spuren hinterlassen: in der Wissenschaft, der Literatur und der Philosophie.

Diese Arbeit widmet sich einer ganz bestimmten Generation, einer ganz bestimmten geistigen Strömung im Universum der jüdischen Kultur inMitteleuropa: einer Generation von Intellektuellen, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts geboren sind und deren Schriften sich sowohl aus den Quellen der deutschen Romantik wie aus der jüdischen Tradition des Messianismus speisen.

In ihrem Denken verbinden sich im tiefsten Kern, organisch und unauflöslich, deutsche und jüdische Elemente, ganz gleichgültig, ob dieser Synkretismus nun stolz verantwortet wird wie bei Gustav Landauer, oder ob er in die innere Zerrissenheit führt wie bei Kafka. Einige von ihnen versuchen, ihre deutschen Ursprünge zu verleugnen (Gershom Scholem), andere ihre jüdische Identität (Lukács). Ihre Gedanken kreisen um die jüdische oder kabbalistische Idee desTikkun, ein Begriff mit mehreren Bedeutungen, der sowohlErlösung heißen kann, wie vor allem auch Entschädigung, Wiedergutmachung, Erneuerung, Wiederherstellung der verlorenen Harmonie.