KAPITEL EINS
Dem Tode knapp entronnen und doch immer noch so nahe, stolperte Meister Grey die Straße hinunter. Der mächtige Magier des Königs musste sich an den Häuserwänden abstützen, um nicht zusammenzubrechen. Er taumelte von einem Halt zum nächsten. Er wusste, dass er, wenn er einmal am Boden lag, nicht mehr aufstehen würde.
Gerade als die ersten Strahlen des neuen Tages auf Royalsport fielen, humpelte er durch die Tür eines verlassenen Gebäudes. Der Schweiß der Anstrengung perlte auf seinem kahlen Kopf und als er das Gebäude betrat, stützte er sich auf ein Stück Holz, das er gefunden hatte.
Das Gebäude schien leer zu sein, was wahrscheinlich in diesem Moment das Beste war. Er war sich sicher, dass Imperator Ravin für den Magier des ehemaligen Königs gut bezahlen würde und Grey hatte nicht mehr die Energie,irgendjemanden zu bekämpfen. Er lächelte bitter; wenn er nicht bald zur Ruhe käme, würde Ravins Leuten nichts übrigbleiben, was sie töten könnten.
Er lehnte sich für ein paar Sekunden zum Verschnaufen gegen die Mauer und zwang sich dann, durch das Haus zu klettern. Nach seinem Kampf mit den Verborgenen tat alles weh, und es gab Treppenabschnitte, auf denen er sich nur kriechend vorwärtsbewegen konnte.
Grey blickte in einen Raum nach dem anderen, bis er zu einem Schlafgemach ganz oben im Haus kam, wo der Inhaber seine Besitztümer auf einem breiten Bett verstreut hatte, als hätte er in Eile zusammenraffen müssen, was er konnte. Auf einem Tisch neben dem Bett stand ein Krug mit Wein. Meister Grey nippte daran, spuckte ihn gleich wieder aus und schmeckte brackige Flüssigkeit gemischt mit seinem eigenen Blut. Er hatte offensichtlich seit vor der Invasion dort gestanden.
Der Raum hatte breite, gewölbte Fenster, durch die das Sonnenlicht hereinflutete. Sie boten ihm auch einen guten Platz, um sich gegen die Wand fallen zu lassen und bei Sonnenaufgang über die Stadt zu schauen. Er starrte auf Royalsports Häuser und die Plätze und blickte auf das Land, das sich hinter seinen Mauern und darüber hinaus in der Ferne ausbreitete. Meister Grey kannte Royalsport besser als jeder andere lebende Mann – alles, was es gewesen war, alles, was es war, vielleicht sogar alles, was es je sein würde.
Während er durch die Fenster schaute, spürte er, wie sein ganzer Körper bis ins Mark schmerzte, Schmerz schien von jedem Atom seines Wesens auszustrahlen, als Folge seines Kampfes mit den Verborgenen und dem Drachenangriff, der die Stadt in Brand gesetzt hatte.
Meister Grey konnte die Folgen dieses Angriffs sehen, als er hinausschaute und die Stellen sah, im Adelsviertel und auf dem Markt um das Haus der Kaufleute, in den Armenvierteln und um das Haus der Waffen, an denen immer noch Feuer schwelten. An zu vielen Stellen waren noch Flammen zu sehen, die Gebäude verzehrten, und wo die Leute nur zuschauen konnten, während alles, was sie besaßen, verbrannte.
In anderen Teilen bewegten sich die Menschen innerhalb der Stadt von Insel zu Insel und wateten über die Bäche, die gerade bei Ebbe standen. Viele trugen Wassereimer und Grey sah eine ganze Kette von ihnen in Richtung des farbenfrohen Hauses der Seufzer wandern und die Überreste des Drachenfeuers in Royalsports inneren Stadtteilen löschen.
Für die Menschen dort musste es wie eine weitere Katastrophe gewesen sein, die dem Grauen der Invasion folgte. Sie hatten erlebt, wie ihre Stadt gefallen und ihre ehemalige Königin getötet worden war, weil sie einen Aufstand angezettelt hatte. Es hatte sich herumgesprochen, dass die Prinzessinnen Lenore und Erin von Stillen Männern getötet worden waren. Sie mussten die Unterdrückung durch das neue Regime ertragen, unter dem ihr Essen und ihre jungen Männer für die Armee gestohlen, Münzen für Steuern beschlagnahmt oder einfach geplündert wurden. Sogar jetzt stand die Burg verschlossen, die Tore verriegelt, und es kam keine Hilfe für diejenigen, deren Häuser brannten oder deren Familien bei dem Angriff gestorben waren.
Grey konnte sich ihre Todesangst vorstellen, als der Drache angegriffen hatte, er selbst hatte Angst gespürt, als er über ihm schwebte. Er war aber auch dafür dankbar gewesen. In dem Moment, als er zugeschlagen hatte, war sein Kampf gegen die Verborgenen …
Er wäre gestorben. Jetzt konnte er sich zumindest so viel eingestehen. Trotz all der Kraft und des Wissens, das er im Laufe eines langen Lebens aufgebaut hatte, war er dem Tod ganz nahe gewesen. Alle drei Verborgenen zusammen waren zu viel für ihn gewesen, er hätte es alleine nicht schaffen können. Wäre der Drache nicht gewesen, hätte er verloren, wäre getötet worden.
Grey saß oben in dem Haus, die einzige Zuflucht, die er finden konnte, und dachte auf eine Weise über seine Sterblichkeit nach, wie er es lange nicht mehr getan hatte. Er hatte selten einen Grund gehabt, da die Magie ihn beschützt hatte, sein Leben verlängert und ihm geholfen hatte, unglaubliche Dinge zu tun. Er hatte einige der Gefahren kommen sehen, aber jetzt konnte er fühlen, wie ihr Gewicht ihn erdrückte, es war anstrengender und erschöpfender als alles andere. Grey sackte gegen den Rahmen des Fensters, es war im Moment das einzige, was ihn noch halbwegs aufrecht hielt.
Seine weißen Gewänder waren jetzt schmutzig, teils verrußt und an den Stellen, an denen er gefallen war, von Schlamm bedeckt. Normalerweise hätte er Magie benutzt, um diese Spuren wegzuwischen oder zumindest zu verschleiern, aber jetzt hatte er nicht einmal die Kraft dafür.
Alles zerfiel vor seinen Augen: Renard und das Amulett waren verschwunden, die Stadt stand in Flammen, er war erschöpft. Der Drache über der Stadt war ein Zeichen dafür, dass sich die Dinge so entwickelten, wie er es so lange befürchtet hatte, und jetzt war er sich nicht sicher, ob er einen Weg finden konnte, dass sich die Dinge so entwickeln würden, wie sie sollten.
Nein, er würde der Verzweiflung nicht nachgeben. Inmitten all dessen gab es noch Dinge, die Hoffnung weckten.
Zum einen war Wrath von den Verborgenen tot, vom Atem des Drachen zu Asche zerfallen. Eine Welt mit einem Verborgenen weniger war ein besserer Ort; die dunklen Mächte, mit denen sie Handel trieben, machten sie viel zu gefährlich, um frei da draußen herumzulaufen.
Jetzt waren noch zwei übrig: Void und Verdant. Jeder von ihnen stellte trotzdem eine tödliche Gefahr dar, wobei Void war wahrscheinlic