Was geschieht hiereigentlich?
Dinge wahrzunehmen ist der Keim der Intelligenz.
Laotse
Finden Sie es nicht auch auffällig, dass in Ländern, wo Menschen allen Grund hätten, unter Stress zu leiden – weil sie nicht wissen, wie sie an Nahrung kommen oder ob sie in der nächsten Nacht ein Dach über dem Kopf haben werden, geschweige denn, ob sie überhaupt am Leben bleiben –, Burn- out wenig oder gar nicht bekannt ist?
Die Menschen im zwanzigsten Jahrhundert haben zwei Weltkriege mit unglaublichen Belastungen erlebt und noch früher waren Arbeitstage von mehr als 12 Stunden ohne Jahresurlaub keine Seltenheit. Könnte das Phänomen Burn-out vielleicht etwas mit fehlender Sinnhaftigkeit im Leben der Betroffenen zu tun haben oder gar mit dem Verlust von Werten?
Mozart komponierte binnen kurzer Zeit drei große Opern und bekam keinen Burn-out. Paul Cézanne schuf unzählige eindrucksvolle Werke und erlitt keinen Burn-out. Jemand, der wirklich tief begeistert ist von dem, was er tut, kann gar nicht ausbrennen, im Gegenteil: Er bekommt Kraft aus seiner Tätigkeit, auch wenn er zwölf Stunden oder mehr darauf verwendet.
Seit Jahren darf ich beobachten, wie griechische Fischer, die morgens in aller Frühe aufs Meer fahren, vormittags zurückkommen und bis in den späten Abend in ihrer Taverne arbeiten. Dabei plaudern sie gut gelaunt mit ihren Gästen. Als ich dort von meinem gerade entstehenden Buch über Burn-out erzählte, fragten sie, was das sei – und schüttelten dann nur den Kopf. Sogar der ansässige Arzt, mit dem ich im Zuge meiner Recherchen sprach, kannte Burn-out und dessen Symptome bis vor Kurzem lediglich vom Hörensagen und aus einer Fachzeitschrift. Inzwischen, so sagte er mir, gebe es das Phänomen leider zunehmend auch in den großen Städten auf dem Festland; er bringe das mit dem enormen Druck in Verbindung, der seit der Krise auf dem Land liegt.
Ungezählte Menschen stecken dort tief im Tal der Depression. Es ist sogar so schlimm, dass viele Griechen keinen anderen Ausweg mehr wissen als den Freitod. Die Angst, als Bettler zu enden, lässt viele zum Strick greifen. Täglich nehmen sich dort zwei bis drei Menschen das Leben, 25–30 versuchen es. Die Psychologen der Athener Pantion Universität untersuchen die psychologischen Auswirkungen der Finanzkrise. Früher waren Suizide in der griechischen Gesellschaft sehr selten, zurzeit liegt die Rate bei 12 Prozent und steigt weiter an. Angesichts der großen Not ist sogar die Kirche von ihrer Regel abgewichen, Selbstmörder nicht zu bestatten.
Es ist still geworden in Griechenland, weil die Menschen erschöpft sind. Die Zeiten der Massenproteste sind vorbei. 2012 kam es noch zu Straßenschlachten vor dem Parlament. Anlass war der Selbstmord eines 77-jährigen Rentners, der sich aus Protest mitten auf dem Platz erschossen hatte. Laut seines Abschiedsbriefes wollte er damit ein Zeichen setzen und die Jugend auffordern, sich zu wehren. Der Kampf ums Überleben nimmt inzwischen den Menschen die Kraft zur Revolte. Das sind typische Merkmale eines Burn-out. Natürlich wird das nicht bekannt gemacht, da es die Erholung der Aktienmärkte stören würde. Die Troika zeigte sich bei ihrem letzten Besuch ›zufrieden‹. Womit? Damit, dass es in Griechenland wieder Malaria-Tote gibt? Oder mit der Verdreifachung der Selbstmordrate, die jahrelang die niedrigste in Europa war?
Ist die Troika zufrieden mit der Arbeitslosenquote von 27 Prozent? Oder mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 70,6 Prozent in der griechischen Region Dykiti Macedonia? 1,3 Millionen von 3,6 Millionen erwerbsfähigen Griechen sind arbeitslos. Ein Drittel der Bevölkerung ist unter die Armutsgrenze gefallen. Bei 7 Millionen Griechen bestimmt Armut den Alltag.
Ist die Troika zufrieden damit, dass weit mehr als 300.000 Griechen ihr Auto abgemeldet haben oder dass Eltern ihre Kinder in SOS-Kinderdörfern abgeben, weil sie sie nicht mehr ernähren können? 150.000 Hochschulabsolventen haben in jüngster Zeit das Land verlassen, 120.000 Firmen sind inzwischen bankrottgegangen. Dieser beispiellose Aderlass ist die traurige Situation in Griechenland. Man darf gespannt sein, was die neue Regierung Griechenlands bewirken wird. Die Troika wollen sie jedenfalls schon einmal des Landes verweisen und zeigen damit diesen menschenverachtenden Robotern der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds die kalte Schulter. Wahrscheinlich hat man nun hierzulande Angst vor einer Annäherung Griechenlands an Russland. Diese Wahl war sicher der demokratische Hilfeschrei eines Volkes, das damit gesagt hat: »