1. Kapitel – Montag, 9. September
Dr. Klara Kötter war nicht mehr die Schnellste, auch nicht die Jüngste, aber sie war rüstig und fit und fühlte sich noch lange nicht zum alten Eisen gehörig. Die Hüftoperation hatte sie gut überstanden. Seit einigen Tagen lebte sie wieder in ihren eigenen vier Wänden. Sie hatte einen ersten kurzen Spaziergang unternommen, um den Gang mit ihren neuen Gehstöcken zu testen. Auf einer Bank auf dem Deich unweit der Hervester Brücke hatte sie eine kleine Pause eingelegt und träumte in der warmen Sonne des Spätsommers vor sich hin. Sie stellte fest, dass der Kirchturm der Agathakirche durch den Neubau einer Fabrik mit einem Hochhaus und hoch aufragenden Rohren im Gewerbegebiet von hier aus nicht zu sehen war. Sie hatte noch nie auf dieser Bank Platz genommen. Wenn sie mit ihrem Mann einen Spaziergang machte, wurden es größere Distanzen, wenn sie nicht gerade in die andere Richtung gingen.
Ihr Haus befand sich an der Blumenstraße auf einem großen, weitläufigen Grundstück, das an die nördlich der Lippe gelegenen Wiesen grenzte. Im Vorgarten grünte und blühte es von Februar bis in den Oktober. Ganz wie es der Name der Straße erforderte. Hinter dem Haus, nach Süden gelegen, verfügte das Anwesen über einen großen, teils der Natur überlassenen Garten. Von der Terrasse aus hatte man freie Sicht über die Lippeauen bis zum Kirchturm der Agathakirche, dessen Turmspitze über den Deich und die ersten Dächer der Stadt hinausragte. Der Ausblick war ihr sehr vertraut, denn sie hatte schon als Kind in diesem Haus gewohnt, das sie nach dem Tod ihrer Eltern behalten hatte, obwohl ihr so mancher Verwandte davon abgeraten hatte. Inzwischen hatte sich der Turm zweimal verändert. Nach dem Krieg stand er lange Zeit ohne Spitze da, aber heute strahlte diese in der Sonne mit ihrer glänzenden Patina. Das Haus war aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und sie stellte die vierte Generation, an der es lag, das alte Gutshaus zu erhalten. Sie würde es ihren beiden Kindern vererben, bei denen sie die Tradition des Anwesens gut verwahrt glaubte. Sie dachte an ihre Kinder. Benedikt und Annalena mochten das Haus. Beide waren fleißig und nicht dumm, hatten ihr Abitur ohne eine Ehrenrunde gemacht und befanden sich im Studium. Zurzeit verfeinerte Benedikt seine Kenntnisse auf dem Gebiet des Ruderleistungszentrums inDortmund. Seine Schwester war leidenschaftliche Radsportlerin und erweiterte ihren Horizont im Zentrum für Radsport an der Universität in Halle an der Saale.
Das Rattern eines Motorrades riss sie aus ihren Träumen. Das gleißende Sonnenlicht blendete sie einen Moment. Sie zog die Sonnenbrille, die sie wie einen Haarreif in ihrer Frisur stecken hatte, vor die Augen und erschrak bis ins Mark. Unter der Brücke trieb ein Kanu kieloben und dahinter rang ein Mensch um sein Leben. Er versuchte, sich mit letzter Kraft an se