Prolog
Sixtinische Kapelle, Vatikan, Rom, Italien
Kardinal Julio richtete seinen Blick auf die Braut in ihrem maßgeschneiderten Kleid aus weißer spanischer Seide und wusste: Hier handelte es sich um ein Ereignis, wie es nur alle zehn Jahre zu verzeichnen war. Denn das Brautkleid mit der meterlangen Schleppe, von Hand mit echten Perlen und antiker Spitze bestickt, hatte weit mehr gekostet, als ein durchschnittlicher römischer Angestellter im Jahr verdiente, und erinnerte in seinem Prunk an die Hochzeit von Königen. Und auch der Ort wäre einer königlichen Hochzeit mehr als würdig gewesen. Die Sixtinische Kapelle, in der sonst die Päpste gewählt wurden. Hier war2005 BenediktXVI. als zweiter Deutscher in der Geschichte der katholischen Kirche zum Papst gewählt worden.Ich möchte ein einfacher Arbeiter im Weinberg des Herrn sein, hatte er gesagt.
Julio sah nach oben.
Das Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle war1512 zum Allerheiligenfest von Michelangelo fertiggestellt worden und galt als eines der größten Kunstwerke überhaupt. Die Erschaffung Adams, bei dem sich die Finger von Adam und Gott einander annäherten, hatte nicht nur das Bild von Gott als altem Mann mit Bart tief im kulturellen Gedächtnis verankert, sondern war bis nach Hollywood vorgedrungen.
Über zwanzig Jahre später hatte Michelangelo, damals bereits um die sechzig, damit begonnen, das Jüngste Gericht zu malen. Nach der Plünderung Roms durch deutsche Landsknechte1527, was als Strafe Gottes für die sündige Stadt angesehen wurde, war dieses gigantische Gemälde eine Art Buße für die gesamte Stadt. Julio blickte zur Stirnseite der Kapelle und blickte auf Christus, der inmitten der unzähligen Gestalten, die das riesige Werk bevölkerten, die Erlösten von den Verdammten trennte. Es waren die Schrecken und die Erlösung gleichermaßen, die Michelangelo meisterhaft darstellte. Denn so wie Shakespeare alles hatte schreiben können, das wusste Julio, hatte Michelangelo, der eigentlich Bildhauer war, alles malen können. Die Hoffnung auf die Ewigkeit der Erlösten, die zitternde Erwartung der Verdammten, die hinabsanken in die ewigen Qualen. Zwei Zentren in diesem Bild, zwei Polaritäten, die die ganze Welt erklärten: Überwältigende Freude und vernichtender Schmerz, Himmel und Hölle, Gut und Böse.
Der Blick des Kardinals fiel erneut auf Christus. Aber Christus erwiderte den Blick nicht. Christus hatte nur Augen für einen: den heiligen Bartholomäus, der im persischen Teil von Syrien gehäutet worden war. Sie hatten ihm die Haut abgezogen, auch von seinem Gesicht. Und die Züge der Haut, die der Heilige mit sich trug, während er ins Paradies ging, trugen die Züge des Künstlers Michelangelo selbst. Als wollte sich Michelangelo, als Begleitung von Bartholomäus, ebenfalls den Einzug ins Paradies sichern. Sollte er einmal Papst werden, dachte Julio, dann würde er sich den Namen Bartholomäus geben.
Die Gäste nahmen all das nicht wahr, nicht das imposante Deckengemälde und auch nicht das riesige Kunstwerk des Jüngsten Gerichts an der Stirnseite der Kapelle. Denn alle Augen waren auf die Braut gerichtet, die soeben zu den Klängen von Pachelbels Kanon in D-Dur am Arm ihres Stiefvaters einzog. Der Kanon wurde von einem Streichquartett gespielt, untermalt von der Orgel der Kapelle, die erst im Jahr2002 eingebaut worden war. Aurelia Sforza, Tochter der adeligen Donatella Sforza, würde Vicente Visconti heiraten, den Patensohn ihres Stiefvaters Paolo Visconti. Paolo Visconti war mittlerweile achtzig Jahre alt und hatte sehr spät noch einmal geheiratet, die dreißig Jahre jüngere Donatella. Vicente war für ihn wie ein zweiter Sohn geworden, Aurelia wie eine eigene Tochter. Denn seine einzige Tochter Carina war vor zehn Ja