Micha Brumlik
Vorbemerkung
Mehr als fünfundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen der ersten Beiträge zur advokatorischen Ethik ist es unwiderruflich an der Zeit, dieses Projekt grundbegrifflich zu erweitern und damit neu zu begründen. Das wird an einem Fall aus jüngster Zeit besonders deutlich: Die Presse1 berichtete vom im Great Ormond Street Hospital in London behandelten elf Monate alten Baby Charlie Gard, das – bei der Geburt „normal“ wirkend, dann doch bald – aufgrund eines bei beiden Eltern vorhandenen defekten Gens sichtlich an einem „Mitochondrialen DNA Depletionssyndroms“ litt und daher weder sehen noch hören noch sich bewegen konnte. Die Ärzte des eher patriarchalischen britischen Medizinssystems wollten die lebenserhaltenden Maßnahmen einstellen und das Baby sterben lassen; die Eltern klammerten sich an den Umstand, dass in den USA ein Arzt an einer Therapie für diese Krankheit forscht. Ebenso hatten die verzweifelten Eltern unter ihrer Website „Charlie´s Fight“ über das Instrument des „Crowd Funding“ bereits 1,4 Millionen Euro für eine Behandlung in den USA gesammelt, sowohl Papst Franziskus als auch Präsident Trump haben sich dafür ausgesprochen, indes: nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs waren die Maschinen gemäß britischen Rechts abzustellen, denn – so die behandelnden Ärzte: das Abschalten der Maschine sei im
„best interest des Kindes...man quäle Charlie sonst nur unnötig, Hoffnung auf Besserung gebe es nicht, habe doch die Krankheit Charlies Gehirn...irreversibel geschädigt.“2
Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte geurteilt, daß Eltern als gefühlsbetonte und voreingenommene Wesen minder objektiv seien als Ärzte, die – nicht emotional involviert – besser im Interesse des Patienten entscheiden könnten.
Der Fall, aber nicht nur dieser Fall gibt Anlass, das Projekt einer „advokatorischen Ethik“ um mindestens zwei Grundbegriffe zu erweitern: den Begriff der „Verantwortung“ und den Begriff der „Würde“. Zuvor ist aber noch einmal aus der Perspektive einer philosophischen Anthropologie, die notwendigerweise auch immer eine pädagogische Anthropologie sein muss, auf das Verhältnis von Vertrauen und Verantwortung, sodann – im Anschluss – auf das Problem menschlicher Würde einzugehen.
1. Die Zeitgestalt des menschlichen Lebens
In pädagogischen, d.h. immer auch in intergenerationellen, Beziehungen hängen Verantwortung und Vertrauen eng miteinander zusammen – geht es doch um die Verantwortung der Erwachsenen für die „noch-nicht“ sowie die „nicht-mehr Mündigen“ – für die Alten oder die Kinder. Der Begriff der „Verantwortung“ signalisiert, dass es hier um eine Ethik der Lebensalter geht. Dabei ist mindestens zweierlei zu klären: erstens die Frage, was genau ein Lebensalter, manche sprechen auch von Entwicklungsabschnitten, ist, und zweitens, in welchem Ausmaß und aus welchen Gründen hieraus wem gegenüber welche Pflichten enstehen.
Indes: „Verantwortung“ ist – wie zuletzt Valentin Beck mit Blick auf die Verantwortung der Länder des Westens für die unter Armut, Hunger und Krieg leidenden Länder des Südens gezeigt hat – nicht mit einer unmittelbaren moralischen Verpflichtung identisch.3 Bei der Zuschreibung bzw. Übernahme von „Verantwortung“ geht es nach Beck um Folgendes:
„Für das eigene Tun und Unterlassen einzustehen und von anderen zu fordern, dass sie dies ebenfalls tun, schließt zudem ein, sich und anderen bestimmte Handlungen und Handlungsfolgen zuzurechnen.“4