Walter Homolka
Martin Luther als Symbol geistiger Freiheit? Der Reformator und seine Rezeption im Judentum
„Wer immer aus irgendwelchen Motiven gegen die Juden schreibt, glaubt das Recht zu besitzen, triumphierend auf Luther zu verweisen“, befand vor gut einhundert Jahren der junge Rabbiner Reinhold Lewin (1888−1943).1 Als 1911 seine preisgekrönte Inaugural-Dissertation „Luthers Stellung zu den Juden. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland während des Reformationszeitalters“ erschien, war dies die überhaupt erste wissenschaftliche Monographie zu diesem Thema, die auf der Durchsicht aller Schriften des Reformators beruhte. Lewin machte in seiner Arbeit das Schwinden von Luthers Konversionshoffnung für dessen Abkehr von seiner anfänglich toleranten Haltung gegenüber den Juden verantwortlich.2
Martin Luther ist Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Legitimationsfigur des Antisemitismus geworden. Es gab aber schon zu Lebzeiten des Reformators auch jüdische Stimmen zu seinem Wirken und zu seiner Wirkung; Andreas Pangritz hat diese frühe Rezeptionsgeschichte ausführlich geschildert.3 Als eine der ersten jüdischen Reaktionen gilt die des aus Spanien stammenden Jerusalemer Kabbalisten Rabbi Abraham ben Elieser Halevi (ca. 1460−1528), der in einem Brief von 1525 Luther als denjenigen beschrieb, der die Christen zum wahren Glauben zurückbringen würde, also als Wegbereiter des Messias.4
Auch wenn diese messianischen Hoffnungen enttäuscht wurden und die anfängliche Sympathie bald schwand: Luther hatte mit seiner Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ (1523) eine unerhört neue Position vertreten.5 Als er sich zunächst in die Lage der Juden in Europa versetzte und schrieb: „Und wenn ich ein Jude gewesen wäre und hätte gesehen, dass solche Tölpel und Knebel den christlichen Glauben regieren und lehren, so wäre ich eher eine Sau als ein Christ geworden“, da weckte das bei den Juden in den deutschsprachigen Ländern zunächst große Hoffnungen auf eine Verbesserung ihrer Lage: „Das war ein Wort, wie es die Juden seit einem Jahrtausend nicht gehört hatten“, urteilte Heinrich Graetz.6 Doch dann empfand Luther das Festhalten der Juden an ihrem Glauben als Infragestellung seines eigenen Glaubensangebots, was später mit zu seinen starken Ausfällen gegen ihre „Verstocktheit“ führte, so zu seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ von 1543.7 Noch im selben Jahr fand eine umfassende Vertreibung aus dem Kurfürstentum Sachsen statt, wo die harte Einstellung des Reformators gegenüber den Juden dominierte; bei der Vertreibung aus dem lutherischen Braunschweig berief sich der Stadtrat 1546 ebenfalls auf Luthers Judenschriften. Zuvor hatte als erster protestantischer Landesherr der hessische Landgraf Philipp „der Großmütige“ das jüdische Leben mit einer Judenordnung reglementiert. Rabbiner Abraham Geiger (1810−1874) kommentierte die Wirkung des Reformators folgendermaßen: „So darf es uns denn auch nicht befremden, wenn das befreiende Reformationswerk in seiner Heimstätte sich sehr bald zur dogmatischen Formel verengt, daß wir fast glauben müssen, es sei hier keine Befreiung vor sich gegangen, sondern nur Fessel mit Fessel vertauscht worden, das Volksleben sei nicht erfrischt worden, vielmehr habe ein kleinlicher Geist dasselbe verunreinigt und zerfleischt.“8
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Luther im Zuge der jüdischen Aufklärung zum Symbol und Ausgangspunkt geistiger Freiheit. Jüdische Reformer wie Saul Ascher (1767−1822) begriffen ihn als Wegbereiter für Emanzipation und Erneuerung des Judentums.9 Die jüdische Luther-Verehrung erinnert damit sehr an die Begeisterung für Friedrich Schiller.10 Dorothea Wendebourg hat auf den Umstand hingewiesen, dass die judenfeindlichen Schriften des späten Luthers bis zu ihrem Nachdruck in der 1826 begonnenen Erlanger Gesamtausgabe offensichtlich nicht bekannt waren.11 Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fielen seine gehässigen Ausfälle kaum ins Gewicht, wenngleich der Leipziger Pastor Ludwig Fischer 1838 Luthers Schriften über Juden von 1523 und 1543 veröffentlicht hatte um die Notwendigkeit einer „freundlichen“ Judenmission gegenüber der „erstarrten“ lutherischen Orthodoxie zu begründen.12
Stattdessen wurde er als Übersetzer gewürdigt, der den Reichtum der hebräischen Sprache erkannt und die Schrift verdeutscht und volkstümlich gemacht hatte, und nicht von ungefähr wurde Moses Mendelssohn (1729−1786), der die Tora ins Deutsche übertragen hatte, im 19. Jahrhundert als Reformator und als „Luther des Judentums“ gefeiert.13 Heinrich Heine bestärkte in seinerGeschichte der Religion und Philosophie in Deuts