Wer radikalisiert sich?
Wer radikalisiert sich? Warum? In welchen Prozessen? In Frankreich lassen sich zwei Gruppen mit ganz unterschiedlichen Antrieben ausmachen. Die eine kommt aus den Vorstadtgettos und hat oft schon eine kriminelle Vergangenheit, die andere kommt aus den Mittelschichten und richtet den Blick nach Syrien.
Die Anschläge, die am Freitag, den 13. November 2015 Paris erschüttert haben, werfen weniger als ein Jahr nach dem Massaker in den Redaktionsräumen vonCharlie Hebdo erneut die Frage nach dem Dschihadismus und seiner Ideologie auf – aber auch und vor allem nach dem Dschihadisten, der zur Tat schreitet und kaltblütig seine Verbrechen verübt. Was geht in seinem Kopf vor? Woher rührt seine Entschlossenheit? Und wie soll man die Besessenheit begreifen, mit der er tötet und sogar den eigenen Tod als Vollendung seines Schicksals im Märtyrertum vorausplant?
In Frankreich ist der Terrorismus im Namen Allahs ein Phänomen, das eine kleine Minderheit unter den Muslimen betrifft, tatsächlich nur einen winzigen Bruchteil. Seine Auswirkungen jedoch stehen in keinem Verhältnis zur Zahl der Getöteten. Er verstört die Gesellschaft und zeitigt eine tiefe Krise, von der die Grundfesten sozialer Ordnung erschüttert werden.
Die Vorstadtgettos, ein Rekrutierungspool
Von den Attentaten auf die Pariser Regionalbahn RER B bis zum Massaker in den Redaktionsräumen vonCharlie Hebdo lassen sich inzwischen mehrere Generationen radikaler Islamisten in Frankreich unterscheiden (siehe unten).
Gemeinsam ist ihnen, dass es sich um „hausgemachte Terroristen“ handelt, die in Frankreich zur Schule gegangen und ausgebildet worden sind. Zudem haben sie ein ganz ähnliches Profil: Alle blicken bereits auf eine kriminelle Vergangenheit zurück. Sie haben Raubüberfälle begangen oder mit Drogen gehandelt und mehr oder weniger lange Haftstrafen verbüßt. Nur Khaled Kelkal, der in die Bombenanschläge von 1995 verwickelt war, scheint in einer relativ „normalen“ Familie aufgewachsen zu sein; die Übrigen hatten eine schwierige Kindheit, häufig mit Heimaufenthalten. Ihre psychischen Probleme haben sie schon früh zu anfälligen Charakteren gemacht (das war auch der Fall bei Zacarias Moussaoui, der in den Vereinigten Staaten in Zusammenhang mit den Attentaten vom 11. September 2001 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde). Überdies teilen sie denselben religiösen Werdegang. Sie waren sämtlich deislamisiert, bevor sie zuwiedergeborenen Muslimen oder unter dem Einfluss eines Gurus, ihrer Freunde oder ihrer Lektüren im Internet konvertierten und Dschihadisten wurden. Schließlich haben alle eine Initiationsreise in ein Land des Nahen und Mittleren Ostens oder in Kriegsgebiete unternommen (Irak, Syrien, Afghanistan, Pakistan …). Man kann also von fünf Phasen sprechen: Leben in der Banlieue, Straffälligkeit, Gefängnis, kriegerische Reise und radikale Islamisierung.
Das Leben in den Vorstadtgettos und das Gefühl des Ausgeschlossenseins
Die jungen Menschen aus der Banlieue, die sich dem radikalen Islam anschließen, haben eine grundlegende Gemeinsamkeit: den Hass auf die Gesellschaft. Sie leiden unter einem tiefen Gefühl sozialer Ungerechtigkeit. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass sie ihren Ausschluss als eine unverrückbare Gegebenheit erleben, als Stigmatisierung, die ihnen auf die Stirn geschrieben steht und ihrem Akzent so unwiderruflich anhaftet wie ihrer vom Argot der Vorstadtgettos und den angloarabischen Ausdrücken geprägten Sprache. Ihr körperliches Auftreten wird von anderen Bürgern oft als bedrohlich wahrgenommen. Sie haben mit der Gesellschaft gebrochen und verabscheuen Uniformen, selbst die von Feuerwehrmännern, als Ausgeburt einer unterdrückerischen Ordnung. Ihre Identität ist zutiefst geprägt vom Antagonismus zwischen „Integrierten“ – ob sie nun „Gallier“ sind oder Franzosen nordafrikanischer Herkunft, denen der Aufstieg in die Mittelschichten gelungen ist – und Ausgeschlossenen. Stigmatisiert in den Augen der anderen, leiden sie unter dem intensiven Gefühl der eigenen Herabsetzung, das sich in einer Aggressivität ausdrückt, die beim geringsten Anlass a