: Farhad Khosrokhavar
: Radikalisierung Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. Mit einem Vorwort von Claus Leggewie
: CEP Europäische Verlagsanstalt
: 9783863935306
: 1
: CHF 11.70
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: Sozialstrukturforschung
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Brüder Kouachi, die in der Redaktion von Charlie Hebdo zwölf Menschen töteten, waren keine von weither eingeflogenen Glaubenskrieger, sondern kamen aus dem 10. Arrondissement. Was trieb sie, die einer säkular geprägten Familie entstammten, zum Äußersten? Anders als jene islamophoben Verschwörungstheorien, die uns in der trügerischen Gewißheit wiegen wollen, der Feind komme von außen, hält Farhad Khosrokhavar auf diese komplexen Fragen keine einfache Antworten bereit: Wie entstehen gewaltbereite Gruppierungen? Worin besteht die Anziehungskraft radikaler Ideologien? Wie sieht das Persönlichkeitsprofil derer aus, die dem neuen Terrorismus in die Arme laufen? Wie kann man die Rückkehr des Religiösen in einer gewalttätigen Form, in der das letzte Ziel der Tod ist - sei es der dem Feind zugefügte, sei es der, durch den der Märtyrerstatus erlangt wird - erklären? Was ist Bedeutung und Tragweite dieser Art von Radikalisierung, ein zumindest aus westlicher Sicht seltsam anmutendes Phänomen? Ist das ein Kampf um Werte, die seit der Aufklärung längst überwunden schienen? Farhad Khosrokhavar analysiert die djihadistische Radikalisierung in Europa und in der arabischen Welt mit Bezugnahme auf die jüngsten Attentate.  

Farhad Khosrokhavar, französisch-iranischer Soziologe, ist Studienleiter an der EHESS und Forscher am Zentrum für soziologische Analyse und Lehre. Seine Forschung konzentriert sich auf die Soziologie des modernen Iran, die sozialen und anthropologischen Probleme des Islam in Frankreich, sowie die Philosophie der Sozialwissenschaften.

Wer radikalisiert sich?

Wer radikalisiert sich? Warum? In welchen Prozessen? In Frankreich lassen sich zwei Gruppen mit ganz unterschiedlichen Antrieben ausmachen. Die eine kommt aus den Vorstadtgettos und hat oft schon eine kriminelle Vergangenheit, die andere kommt aus den Mittelschichten und richtet den Blick nach Syrien.


Die Anschläge, die am Freitag, den 13. November 2015 Paris erschüttert haben, werfen weniger als ein Jahr nach dem Massaker in den Redaktionsräumen vonCharlie Hebdo erneut die Frage nach dem Dschihadismus und seiner Ideologie auf – aber auch und vor allem nach dem Dschihadisten, der zur Tat schreitet und kaltblütig seine Verbrechen verübt. Was geht in seinem Kopf vor? Woher rührt seine Entschlossenheit? Und wie soll man die Besessenheit begreifen, mit der er tötet und sogar den eigenen Tod als Vollendung seines Schicksals im Märtyrertum vorausplant?

In Frankreich ist der Terrorismus im Namen Allahs ein Phänomen, das eine kleine Minderheit unter den Muslimen betrifft, tatsächlich nur einen winzigen Bruchteil. Seine Auswirkungen jedoch stehen in keinem Verhältnis zur Zahl der Getöteten. Er verstört die Gesellschaft und zeitigt eine tiefe Krise, von der die Grundfesten sozialer Ordnung erschüttert werden.

Die Vorstadtgettos, ein Rekrutierungspool


Von den Attentaten auf die Pariser Regionalbahn RER B bis zum Massaker in den Redaktionsräumen vonCharlie Hebdo lassen sich inzwischen mehrere Generationen radikaler Islamisten in Frankreich unterscheiden (siehe unten).

Gemeinsam ist ihnen, dass es sich um „hausgemachte Terroristen“ handelt, die in Frankreich zur Schule gegangen und ausgebildet worden sind. Zudem haben sie ein ganz ähnliches Profil: Alle blicken bereits auf eine kriminelle Vergangenheit zurück. Sie haben Raubüberfälle begangen oder mit Drogen gehandelt und mehr oder weniger lange Haftstrafen verbüßt. Nur Khaled Kelkal, der in die Bombenanschläge von 1995 verwickelt war, scheint in einer relativ „normalen“ Familie aufgewachsen zu sein; die Übrigen hatten eine schwierige Kindheit, häufig mit Heimaufenthalten. Ihre psychischen Probleme haben sie schon früh zu anfälligen Charakteren gemacht (das war auch der Fall bei Zacarias Moussaoui, der in den Vereinigten Staaten in Zusammenhang mit den Attentaten vom 11. September 2001 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde). Überdies teilen sie denselben religiösen Werdegang. Sie waren sämtlich deislamisiert, bevor sie zuwiedergeborenen Muslimen oder unter dem Einfluss eines Gurus, ihrer Freunde oder ihrer Lektüren im Internet konvertierten und Dschihadisten wurden. Schließlich haben alle eine Initiationsreise in ein Land des Nahen und Mittleren Ostens oder in Kriegsgebiete unternommen (Irak, Syrien, Afghanistan, Pakistan …). Man kann also von fünf Phasen sprechen: Leben in der Banlieue, Straffälligkeit, Gefängnis, kriegerische Reise und radikale Islamisierung.

Das Leben in den Vorstadtgettos und das Gefühl des Ausgeschlossenseins


Die jungen Menschen aus der Banlieue, die sich dem radikalen Islam anschließen, haben eine grundlegende Gemeinsamkeit: den Hass auf die Gesellschaft. Sie leiden unter einem tiefen Gefühl sozialer Ungerechtigkeit. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass sie ihren Ausschluss als eine unverrückbare Gegebenheit erleben, als Stigmatisierung, die ihnen auf die Stirn geschrieben steht und ihrem Akzent so unwiderruflich anhaftet wie ihrer vom Argot der Vorstadtgettos und den angloarabischen Ausdrücken geprägten Sprache. Ihr körperliches Auftreten wird von anderen Bürgern oft als bedrohlich wahrgenommen. Sie haben mit der Gesellschaft gebrochen und verabscheuen Uniformen, selbst die von Feuerwehrmännern, als Ausgeburt einer unterdrückerischen Ordnung. Ihre Identität ist zutiefst geprägt vom Antagonismus zwischen „Integrierten“ – ob sie nun „Gallier“ sind oder Franzosen nordafrikanischer Herkunft, denen der Aufstieg in die Mittelschichten gelungen ist – und Ausgeschlossenen. Stigmatisiert in den Augen der anderen, leiden sie unter dem intensiven Gefühl der eigenen Herabsetzung, das sich in einer Aggressivität ausdrückt, die beim geringsten Anlass a