: Zygmunt Bauman
: Europa Ein Abenteuer mit offenem Ausgang
: CEP Europäische Verlagsanstalt
: 9783863935467
: 1
: CHF 11.70
:
: Politische Soziologie
: German
: 212
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Zygmunt Bauman tritt mit seinen Beobachtungen und Analysen zur Zukunft Europas den Beweis an, dass Europa durchaus die Möglichkeiten hat, die gewaltigen Herausforderungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu meistern. Er plädiert in seinen tief in der europäischen Geistesgeschichte verwurzelten Essays für ein Festhalten am Projekt Europa. 'Sinn und Wahnsinn der Moderne' - eine Laudatio von Ulrich Beck aufden großen Soziologen und Philosophen beschließt den Band. Mehr als je zuvor benötigt unser von Konflikten geschüttelter Planet jene Qualitäten, die insbesondere Europa in seiner mehr als zweitausendjährigen Geschichte erworben hat: die Fähigkeit zur Selbstkritik, zu Forschung und Experiment und zur Einsicht, dass es alternative und bessere Formen des menschlichen Miteinanders geben kann. Und sein Engagement, nach Möglichkeiten und Wegen zu suchen, das Erkannte in die Praxis umzusetzen. Zurzeit jedoch zeigt sich Europa in der sich schnell ändernden Welt unsicher: ohne Visionen, in seinen Ressourcen begrenzt und ohne Willenskraft, sich dieser Aufgabe zu stellen. Zygmunt Bauman tritt den Beweis an, dass Europa mit seinen schwer erkämpften historischen Lektionen eine wichtige Rolle spielen kann beim Wechsel von einer Hobbes'schen Welt, in der jeder des anderen Feind ist, zu der des friedlichen Miteinanders der Menschheit, die Kant vorschwebte.

Zygmunt Bauman, geb. 1925 in Posen. Professor für Soziologie an den Universitäten Warschau (bis 1968), Tel Aviv (bis 1971) und Leeds (bis 1999). Zahlreiche Veröffentlichungen, viele liegen auf Deutsch vor, u.a.: 'Flüchtige Moderne', 'Vom Nutzen der Soziologie', eines seiner Hauptwerke ist 'Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust'. Zygmunt Bauman erhielt 1989 den Amalfi-Preis, 1998 den Theodor-W.-Adorno-Preis, 2010 den Prinzvon- Asturien-Preis und 2014 den Preis für 'ein hervorragendes wissenschaftliches Lebenswerk' der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

1. EIN ABENTEUER NAMENS „EUROPA“


Als Zeus in Gestalt eines Stiers Prinzessin Europa entführt hatte, sandte ihr Vater Agenor, der König von Tyrus, seine Söhne auf die Suche nach seiner verlorenen Tochter. Einer von ihnen, Kadmos, segelte nach Rhodos, landete in Thrakien und machte sich auf, die Länder zu erkunden, die später den Namen seiner unglücklichen Schwester annehmen sollten. In Delphi fragte er das Orakel nach dem Aufenthaltsort seiner Schwester. In diesem speziellen Punkt antwortete Pythia, wie gewohnt, ausweichend – aber sie gab Kadmos folgenden Rat: „Du wirst sie nicht finden. Verschaffe dir lieber eine Kuh, folge ihr und treibe sie vorwärts, gib ihr keine Ruhe; an der Stelle, wo sie vor Erschöpfung niedersinkt, baue eine Stadt.“ So wurde, dieser Erzählung zufolge, Theben erbaut (und so – wie wir, im Nachhinein klüger, beobachten wollen – wurde eine Reihe von Ereignissen in Gang gesetzt, die Euripides und Sophokles als das Garn diente, aus dem sie die europäische Idee des Rechts spannen, die Ödipus befähigte, das zu praktizieren, was der gemeinsame Rahmen für Charakter, Qualen und Lebensdramen der Europäer werden sollte). „Europa suchen“, kommentiert Denis de Rougemont die Lektion Kadmos’, „heißt es schaffen.“ „Europa besteht durch seine Suche nach dem Unendlichen, und eben das nenne ichAbenteuer.“1

Abenteuer? Seiner Etymologie nach bedeutete das Wort ursprünglich Begebenheit, gewagtes Beginnen mit ungewissem Ausgang, Schicksal – etwas, was ohne Plan geschieht, Chance, Zufall, Glücksfall. Es bezeichnete ein Ereignis, das mit Gefahr oder drohendem Verlust verbunden war; Risiko, Wagnis, riskante Unternehmung oder glücklose Verrichtung. Später, unseren modernen Zeiten näher, erhielt „Abenteuer“ den Sinn: seine Chancen auf die Probe stellen, Wagnis oder Experiment – ein neuartiges oder aufregendes Unternehmen, das bislang unerprobt war. Gleichzeitig entstand eine Ableitung: derAbenteurer – ein höchst ambivalentes Nomen, das in einem Atemzug von blindem Schicksal und Schläue, von Geschicklichkeit und Vorsicht, von Ziellosigkeit und Entschlossenheit raunt. Wir können annehmen, dass die Bedeutungsveränderungen dem Reifeprozess des europäischen Geistes folgten: dass dieser sich mit seinem eigenen „Wesen“ abfand.

Die Sage von Kadmos’ Reisen war übrigens nicht die einzige antike Geschichte, die eine solche Botschaft überbrachte; weit gefehlt. In einer anderen Geschichte setzten die Phönizier Segel, um den mythischen Kontinent zu finden, und ergriffen Besitz von der geographischen Realität, die einmal Europa werden sollte. Nach einer weiteren Geschichte sandte Noah nach der Sintflut, als er die Welt unter seine drei Söhne aufteilte, Jafet (nebenbei bemerkt: im Hebräischen „Schönheit“) nach Europa, um dort Gottes Versprechen/Gebot „Seid fruchtbar und vermehret euch; bevölkert die Erde und vermehrt euch auf ihr“ (Genesis 9,7) zu befolgen. Er stattete ihn mit Waffen aus und ermutigte ihn mit dem Versprechen unendlicher Expansion: „Raum schaffe Gott für Jafet“ (Genesis 9,27), „dilatatio“ nach der Vulgata und den Kirchenvätern. Die Kommentatoren der biblischen Botschaft weisen darauf hin, dass Noah bei der Instruktion seiner Söhne einzig auf Jafets Tugend und Fleiß gebaut haben müsse, da er ihn mit keinem anderen Werkzeug des Erfolgs ausstattete.

Alle diese Geschichten durchzieht ein gemeinsamer Faden: Europa ist nicht etwas, das man entdeckt; Europa ist etwas, das gemacht, geschaffen, gebaut werden muss. Und es bedarf einer Menge an Einfallsreichtum, Zielstrebigkeit und harter Arbeit, um diese Mission zu erfüllen. Vielleicht eine Arbeit, die niemals endet, eine Herausforderung, der man sich immer erst noch ganz stellen muss, eine Erwartung, deren Erfüllung immer noch aussteht.

Die Erzählungen unterscheiden sich voneinander, aber in allen war Europa ausnahmslos ein Ort des Abenteuers. Abenteuer wie die endlosen Reisen, die unternommen wurden, um es zu entdecken, zu erfinden oder zu beschwören, Reisen wie diejenigen, welche das Leben des Odysseus ausfüllten. Ihm widerstrebte es, zu der langweiligen S