Kapitel 1
Der Vormittag hatte Regen gebracht, nun aber klarte der Himmel über der Residenzstadt Kassel auf, und die schrägen Sonnenstrahlen des Altweibersommers ließen die feuchten Dächer glänzen. Kinder liefen auf die Gassen hinaus und holten sich in den Pfützen nasse Füße. Auf dem Marställer Platz begann eine Gruppe kurfürstlicher Soldaten unter lauten Kommandorufen zu exerzieren, und die Ladenbesitzer in der Altstadt öffneten ihre Türen, um Kundschaft anzulocken. In der Marktgasse hatte der Scherenschleifer den Regenguss im Schutz eines Hauseingangs abgewartet; nun begab er sich wieder zu seinem Karren, und das durchdringende Kreischen seines Wetzsteins war weithin zu hören.
Niemand in der Marktgasse liebte diese laute Nachbarschaft. Apotheker Wild schloss hastig die Eingangstür der Sonnenapotheke, Goldschmied Weigel schimpfte lauthals, er wolle den Lumpenkerl bei der Polizei melden, weil er ihm die Kundschaft vertrieb. Auch nebenan im Atelier Rosen, wo man schön bestickte Hauben, Spitzenkragen und geschmackvoll dekorierte Frauenhüte im Schaufenster bewundern konnte, regte sich Unmut.
»Mach sofort das Fenster zu, Babette!«, rief Charlotte Rosen ihrer Angestellten zu. »Das ist ja nicht zum Aushalten!«
Babette legte die Haube, die sie gerade mit einer Zackenspitze schmückte, zurück auf den Arbeitstisch und erhob sich, um den soeben geöffneten Fensterflügel wieder zu schließen. Sie tat es widerwillig und ächzte dabei, weil ihr der Auftrag ihrer Brotgeberin nicht gefiel.
»Was braucht’s auch frische Luft und Sonnenschein?«, murrte sie. »Können ja im Dunkeln sitzen und den Gestank der Öllampe atmen wie im tiefsten Winter.«
Charlotte Rosen überhörte den Protest. Die füllige Babette hatte schon im Atelier Rosen Hauben genäht, als das Geschäft von Charlottes Mutter geführt wurde. Sie besaß auch jetzt noch flinke Finger, aber auch ein ebensolches Mundwerk. Neben ihr beim Fenster, wo das beste Licht war, saß die schmale Therese, die stets einen grämlichen Zug um den Mund zur Schau trug und dabei die Geldbeutel mit feinsten Perlenstickereien verzieren konnte. Therese war überzeugt, dass das Schicksal boshaft und ungerecht war, sonst hätte es ihr vor zwanzig Jahren nicht den Verlobten genommen und dafür einen unehelichen Sohn dagelassen.
Bei geschlossenem Fenster drang der schrille Ton des Wetzsteins nur noch gedämpft ins Atelier, was Charlotte Rosen als große Erleichterung empfand. Sie ordnete die Döschen und spitzenbesetzten Beutel auf dem Ladentisch, legte die teuersten Stücke zurück ins Regal und besah dann das Schaufenster mit kritischen Augen. War es nicht Zeit, wieder einmal die Dekoration zu wechseln? Diese Spitzenhauben waren sehr hübsch, aber sie machten nicht viel her. Besser wäre es, einen der farbigen Hüte auszustellen, das zog die Blicke an. Den gelben mit dem roten Samtband, das sich