: Benjamin Schmidt
: Schon immer ein Krüppel
: Edition Outbird
: 9783969171455
: 1
: CHF 5.40
:
: Erzählende Literatur
: German
: 111
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mit der Neufassung des schwarzhumorigen Jugendromans 'Schon immer ein Krüppel' gewährt Benjamin Schmidt Einblicke in ein Leben, das gänzlich neu erfunden werden will. Er zeichnet dabei nicht nur ein schonungslos ehrliches Bild diverser Problematiken bei Querschnittslähmung, sondern auch das einer Jugend, die gegen alles, vor allem die eigenen Unzulänglichkeiten, rebellieren möchte und dabei jeden Atemzug in Frage stellt.Schmidt schreibt lebensnah von surrealen Begegnungen in der Psychiatrie, von Sex im Rollstuhl und vom 'Umgang mit gesunden Menschen', das heißt, Menschen, die sich für gesund halten. Zeile für Zeile werden so Vorurteile und Dankbarrieren abgebaut und eingerissen.Franziska Appel pointiert mit ihren skizzenhaften Illustrationen die Essenz der einzelnen Kapitel. Und solange der Vorrat reicht, bekommen BestellerInnen dieses Buches ein Kunstpostkartenset kostenlos dazu. Viel Glück!

Benjamin Schmidt war schon immer ein Krüppel. Er wurde 1989 ohne sein Einverständnis im thüringischen Saale-Orla-Kreis geboren und versucht sich seither mit den Folgen dieses Geschickes zu arrangieren.Der Rollstuhl Zeugnis, dass es nicht immer gelang dient ihm heute als Sitz und nur noch wenige sind verwundert, wenn er am Lesepult zurückbleibt, während sich der Besitzer kurz die Beine vertritt.Neben seiner Arbeit als Grafiker, musiziert Schmidt in verschiedenen Projekten, darunter die Berliner Dark Punk/Death Rock-Band Gruftschlampen. Mittlerweile hat er auch einige Bücher geschrieben. Eins davon sogar zweimal.

Füße still halten


 

Als Querschnittsgelähmter hatte man für gewöhnlich mehr medizinische Hilfsmittel nötig als auf den ersten Blick ersichtlich. Da war zunächst der Rollstuhl. Dann brauchte man Einlagen, denn die Funktion sämtlicher Schließmuskeln hatte sich eingestellt. Sie nahmen es locker, sozusagen. Man brauchte Katheter, auch die Blase hatte ihren Dienst quittiert. Ein Urinrückstau, der die Nieren schwemmt, war nicht erstrebenswert. Der Darm war träge, also brauchte man Gummihandschuhe, Zäpfchen oder einfach einen starken Kaffee am Morgen. Zu schade, dass ich Kaffee schon immer verabscheute.

Ich war gerade auf dem Weg zum Urologen und zum ersten Mal hatte ich Schwierigkeiten mit einem der erwähnten Hilfsmittel, dem Rollstuhl.Peng! Ein lautes Knallen ließ mich, trotz Kopfhörer im Ohr, zusammenzucken. Mitten im Song. Wie ich das hasste. Als hätte jemandSteven Tyler während›Dream on‹ plötzlich erschossen.

Ein Reifen war geplatzt. Und mit luftleerem Reifen wollte die Bremse auf der betroffenen Seite nun ebenfalls nicht mehr. Ich glaubte vorerst an einen glücklichen Zufall, als ich unterwegs ein Sanitätshaus entdeckte. Fortkommen war ohnehin schon schrecklich, weil die Gehwege hier derart grob gepflastert waren und kaum ein Bordstein abgesenkt. Fuhr man aber in Schräglage bei jeder Umdrehung der Räder über das Ventil des platten Reifens, wurde schnell klar, dass man für solch einen Ernstfall nicht genug trainiert hatte.

Ich befuhr also den Laden, wo ich auf einen älteren Herren traf, der, so wie ich ihm mein Problem schilderte, von entschiedener Hilflosigkeit ergriffen schien. Er verbrachte einige schweißtreibende Minuten am Rechner und ließ mit jedem entnervten Stöhnen meine Zuversicht schwinden. Das benötigte Ersatzteil, also ein neuer Schlauch für meinen Reifen, war nicht vorrätig. Mir wurde angeboten, entweder in zwei bis drei Tagen wiederzukommen oder aber den Rollstuhl zur Reparatur dazulassen und ihn dann nach Ablauf dieser Frist abzuholen. Ich verließ hernach das Sanitätshaus unverrichteter Dinge und beschloss, die letzten fünfzehn Minuten für einen schlechten Traum zu halten. Der mir angebotene Ersatzrollstuhl würde mir mit Sicherheit noch schlaflose Nächte bereiten. In solch ein Ungetüm setzte man sich, wenn man elf Frauen und schließlich seine Mutter vergewaltigt und umgebracht hatte, aber nicht, wenn man auf dem Weg zum Urologen war. Man wollte ja lebend ankommen.

Sicher, ich hätte auch den Vierpunktgehstock nehmen können und anders als andere, die das Privileg einen Rollstuhl zu fahren besaßen, hätte ich tatsächlich auch einfach aufstehen und losspazieren können. Aber der Alltag war grausam. Die Leute glotzten ja so schon immer, da verlor man allein aus Unsicherheit das Gleichgewicht. Spätestens aber in den Fußgängerzonen, wo noch das Gesetz des Stärkeren galt. Unberechenbare Massen strömten einem entgegen. Es fehlte nicht nur ein fester Stand, sondern allein das Bewusstsein für Bodenkontakt.

Dann brauchte man immer einen Sitzplatz und keine Sau verstand, warum ein so junger Mensch einen Sitzplatz nötig hatte. Dann schlurkste man über Straßen und die Autos hupten, was würde diesem Krüppel auch einfallen, zur Hauptverkehrszeit eine Straße zu überqueren. Dann stand man inmitten von Leuten und furzte, weil man seinen Darm nicht mehr unter Kontrolle hatte.

Albern, nicht wahr? Konnte man eben nicht ändern, genau wie jemand mit Tourette seine Tics zu unterdrücken nicht im Stande war. Die Öffentlichkeit reagierte auf sowas selten relaxt. Es war beschämend.

Ging ich zu Fuß, musste ich furzen und anschließe