Ein abgelegenes Haus
Die Sonne schien und es war für Oktober noch ziemlich warm. Die Luft roch sauber und frisch. Das Laub, das noch an den Bäumen hing, leuchtete in freundlichen Rot- und Brauntönen. Ich freute mich. Erstens über das gute Wetter und zweitens auf meinen bevorstehenden Arbeitstag.
Ich war im Norden des Friaul mit einem Kunden verabredet, der mich beauftragt hatte, ein Haus zu begutachten. Er hatte es vor kurzem gekauft.
In einer Zeitung hatte er einen Artikel mit dem Titel »Der Geist der Orte« über mich und meine Arbeit gelesen. Er handelte davon, wie ich die Geschichte von Grundstücken, Häusern, Gebäuden, aber auch Städten und Regionen recherchiere und daraus Schlussfolgerungen für deren aktuelle Bewohner ziehe. Welche Muster sind an einem Ort zu erkennen? Etwa im Hinblick auf die Gesundheit, die Beziehungen oder die wirtschaftliche Situation der bisherigen Bewohner? Was könnten diese Muster für die aktuellen Bewohner des Ortes bedeuten?
Als ich aus dem Auto stieg, ließ ich zunächst die Fassade des Gebäudes auf mich wirken. Sie bestand aus einer spannenden Mischung aus Holz, rohen Ziegeln und verputztem Mauerwerk. Es war ein schönes, zweistöckiges Haus aus dem 18. Jahrhundert, wenngleich es offensichtlich restaurierungsbedürftig war.
Für mich als Historikerin sind 300 Jahre keine allzu große Zeitspanne. Oft genug habe ich mit viel älteren Gebäuden und Gemäuern zu tun, die teilweise in viel schlechteren Zuständen sind. Und ich liebe das. Vor Bauten zu stehen, die so viel Geschichte in sich tragen, ist für mich ein ganz besonderes Gefühl. Zu wissen, dass in jedem Zimmer, in jedem Winkel und an jedem Fenster ganz unterschiedliche Ereignisse stattgefunden haben. Momente im Leben von Menschen, wichtige wie unbedeutende, die längst verschollene Schicksale ausgemacht haben.
Das Ambiente, das dieses Haus umgab, war idyllisch. Das Anwesen stand mitten in einem Park, recht abgelegen, ohne direkte Nachbarn und kein Verkehr störte die Ruhe.
»Hallo Roberta«, begrüßte mich mein Auftraggeber, ein schlanker, sportlicher, gut aussehender Mann Mitte fünfzig, vielleicht Anfang sechzig. Er blickte seitlich an mir herab. »Du hast ja eine süße Begleitung.«
»Darf ich vorstellen: Das ist Leya«, sagte ich.
Leya wedelte fröhlich, als er ihr den Kopf streichelte.
Normalerweise gehe ich folgendermaßen vor: Ich mache einen Rundgang mit dem Besitzer oder der Besitzerin eines Hauses und lasse mir alles zeigen. Daraufhin gehe ich noch einmal allein umher, um alles aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, zu erleben und auf mich wirken zu lassen. Bevor ich mit meinen historischen Recherchen beginne, will ich den Ort spüren, ohne von außen beeinflusst zu werden, denn Eigentümer von Häusern haben immer eine ganz spezielle Bindung an ihr Objekt. Da kann es leicht passieren, dass Besucher wie ich durch ihre Erzählungen ihre neutrale Einstellung verlieren und wic