„BEIDE DEUTSCHE STAATEN SOLLTEN SICH UM DER EINHEIT WILLEN AUFEINANDER ZU REFORMIEREN“
Die am 24. Januar 1986 gegründete Initiative Frieden und Menschenrechte ist eine der ältesten Bürgerrechtsbewegungen in der DDR. Anfangs besteht sie aus lediglich 25 Mitgliedern, zu ihnen zählen die Jugendreferentin im Ost-Berliner Stadtjugendpfarramt Marianne Birthler, die Malerin Bärbel Bohley, das damalige Ehepaar Ulrike und Gerd Poppe sowie der mit Berufsverbot belegte Bibliothekar Wolfgang Templin. „In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört“, beginnt der am 10. September 1989 verfasste Aufruf „Aufbruch 89“.221 Er ist zugleich das Gründungsdokument des am Tage zuvor im Hause der Heimerzieherin Katja Havemann, Witwe Robert Havemanns, in Gründeich gegründeten Neuen Forums. Zu den Erstunterzeichnern gehören Bärbel Bohley, Katja Havemann und der Molekularbiologe Prof. Dr. Jens Reich; in Rostock schließt sich der evangelische Pastor Joachim Gauck dem Neuen Forum an.
Rasch kursiert der Aufruf in der ganzen DDR, bis Ende 1989 unterschreiben ihn 200.000 Bürger, und 10.000 Sympathisanten schließen sich dem Neuen Forum als Mitglieder an. Der Aufruf zum Aufbruch ist die Initialzündung für Hunderttausende, ihr Schweigen zu brechen und aufzustehen gegen die 40-jährige SED-Herrschaft: „Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in eine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben. Wir wollen geordnete Verhältnisse, aber keine Bevormundung. Wir wollen freie, selbstbewusste Menschen, die doch gemeinschaftsbewusst handeln. Wir wollen vor Gewalt geschützt sein und dabei nicht einen Staat von Bütteln und Spitzeln ertragen müssen. Faulpelze und Maulhelden sollen aus ihren Druckposten vertrieben werden, aber wir wollen dabei keine Nachteile für sozial Schwache und Wehrlose. Wir wollen ein wirksames Gesundheitswesen für jeden; aber niemand soll auf Kosten anderer krankfeiern. Wir wollen an Export und Welthandel teilhaben, aber weder zum Schuldner und Diener der führenden Industriestaaten noch zum Ausbeuter und Gläubiger der wirtschaftlich schwachen Länder werden.“222 Die Deutsche Einheit ist für das Neue Forum zunächst kein Thema. Erst nach einem auf der Parteigründungskonferenz im Januar 1990 ausgetragenen Richtungsstreit zwischen linkem und gemäßigtem Flügel streicht das Neue Forum das Bekenntnis zur eigenstaatlichen DDR aus dem Programm.
Am 12. September 1989 unterzeichnen zwölf Bürgerrechtler den Gründungsaufruf von „Demokratie Jetzt“, unter ihnen der Physiker Hans-Jürgen Fischbeck, die Museumsmitarbeiterin Ulrike Poppe, der Theologe Wolfgang Ullmann sowie der Filmregisseur Konrad Weiß; die Mitgründerin des Demokratischen Aufbruchs Katrin Göring-Eckardt, die Arzneimittelforscherin Regine Hildebrandt und der Entwicklungsingenieur Wolfgang Tiefensee schließen sich an. „Was die sozialistische Arbeiterbewegung an sozialer Gerechtigkeit und solidarischer Gesellschaftlichkeit angestrebt hat, steht auf dem Spiel“, heißt es im „Aufruf zur Einstimmung in eigener Sache“.223 „Der Sozialismus muss nun seine eigentliche, demokratische Gestalt finden, wenn er nicht geschichtlich verlorengehen soll. Er darf nicht verlorengehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht, deren Wohlstand die übrige Welt bezahlen muss.“ Die Einheit Deutschlands ist in den „Thesen für eine demokratische Umgestaltung in der DDR“ als Ziel aufgeführt: „Wir laden die Deutschen in der Bundesrepublik ein, auf eine Umgestaltung ihrer Gesellschaft hinzuwirken, die eine neue Einheit des deutschen Volkes in der Hausgemeinschaft der europäischen Völker ermöglichen könnte. Beide deutsche Staaten sollten sich um der Einheit Willen aufeinander zu reformieren.“224 Am 6. Februar 1990 schließen sich Initiative Frieden und Menschenrechte, Neues Forum und „Demokratie Jetzt“ zum Wahlbündnis „Bündnis 90“ zusammen.
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