: Kai-Axel Aanderud
: 30 Jahre Deutsche Einheit - eine Bilanz
: E.S. Mittler& Sohn
: 9783813210323
: 1
: CHF 18.00
:
: Geschichte
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Jeder dritte Deutsche im wiedervereinigten Deutschland ist zu jung, als dass er sich an die Euphorie und den Freudentaumel am 3. Oktober 1990 erinnern könnte; 25,1 Millionen Einwohner dieses Landes sind 30 Jahre oder jünger. Und bei uns Zeitzeugen haben sich drei Jahrzehnte gelebtes Leben auf die Erinnerungen gelegt, viele von ihnen sind verblasst, vergessen, verdrängt. Dabei lohnt es, die Ereignisse jener drei Jahrzehnte Revue passieren zu lassen oder sich die Bilder ins Gedächtnis zu rufen, um sich das Privileg bewusst zu machen, in einem demokratischen, friedlichen und von befreundeten Nachbarnationen umgebenen Deutschland leben zu können.

Kai-Axel Aanderud M.A., geboren 1958 in Kiel, studierte Geschichts-, Politik- und Wirtschafts-wissenschaften in Kiel, Oslo und Heidelberg. Anschließend war er in den ZDF-Redaktionen Zeitgeschichte, heute und heute-journal tätig. Von 1986 bis 1988 volontierte er im 1. Jahrgang der Journalistenschule Axel Springer und erlebte als Politischer Redakteur im Berliner Ullstein-Verlag Existenz und Fall der Mauer; sein 1991 publiziertes Buch 'Die eingemauerte Stadt' lobte Willy Brandt als 'wichtige Orientierung'. Als Management Trainee wurde Aanderud in der Verlagsleitung der nach der 'Wende' vom Axel Springer Verlag erworbenen früheren LDPD-Zeitung Der Morgen in Ost-Berlin und danach im Büro des Zeitungsvorstandes in Hamburg tätig. Nach 1995 verantwortete er als Verlagsleiter die Elektronischen Medien der Bauer Media Group und führte sie erfolgreich in die schwarzen Zahlen. Als Unternehmensberater war er u.a. für Studio Babelsberg in Potsdam tätig. Heute arbeitet Aanderud als Publizist und Produzent in seiner eigenen Medienagentur. Ehrenamtlich engagiert sich der Sohn eines norwegischen Vaters und einer deutschen Mutter als Präsident des Peer Gynt Clubs, Member of the Advisory Council von Norwegians Worldwide und Mitglied des German Norwegian Business Council.

„BEIDE DEUTSCHE STAATEN SOLLTEN SICH UM DER EINHEIT WILLEN AUFEINANDER ZU REFORMIEREN“


Die am 24. Januar 1986 gegründete Initiative Frieden und Menschenrechte ist eine der ältesten Bürgerrechtsbewegungen in der DDR. Anfangs besteht sie aus lediglich 25 Mitgliedern, zu ihnen zählen die Jugendreferentin im Ost-Berliner Stadtjugendpfarramt Marianne Birthler, die Malerin Bärbel Bohley, das damalige Ehepaar Ulrike und Gerd Poppe sowie der mit Berufsverbot belegte Bibliothekar Wolfgang Templin. „In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört“, beginnt der am 10. September 1989 verfasste Aufruf „Aufbruch 89“.221 Er ist zugleich das Gründungsdokument des am Tage zuvor im Hause der Heimerzieherin Katja Havemann, Witwe Robert Havemanns, in Gründeich gegründeten Neuen Forums. Zu den Erstunterzeichnern gehören Bärbel Bohley, Katja Havemann und der Molekularbiologe Prof. Dr. Jens Reich; in Rostock schließt sich der evangelische Pastor Joachim Gauck dem Neuen Forum an.

Rasch kursiert der Aufruf in der ganzen DDR, bis Ende 1989 unterschreiben ihn 200.000 Bürger, und 10.000 Sympathisanten schließen sich dem Neuen Forum als Mitglieder an. Der Aufruf zum Aufbruch ist die Initialzündung für Hunderttausende, ihr Schweigen zu brechen und aufzustehen gegen die 40-jährige SED-Herrschaft: „Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in eine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben. Wir wollen geordnete Verhältnisse, aber keine Bevormundung. Wir wollen freie, selbstbewusste Menschen, die doch gemeinschaftsbewusst handeln. Wir wollen vor Gewalt geschützt sein und dabei nicht einen Staat von Bütteln und Spitzeln ertragen müssen. Faulpelze und Maulhelden sollen aus ihren Druckposten vertrieben werden, aber wir wollen dabei keine Nachteile für sozial Schwache und Wehrlose. Wir wollen ein wirksames Gesundheitswesen für jeden; aber niemand soll auf Kosten anderer krankfeiern. Wir wollen an Export und Welthandel teilhaben, aber weder zum Schuldner und Diener der führenden Industriestaaten noch zum Ausbeuter und Gläubiger der wirtschaftlich schwachen Länder werden.“222 Die Deutsche Einheit ist für das Neue Forum zunächst kein Thema. Erst nach einem auf der Parteigründungskonferenz im Januar 1990 ausgetragenen Richtungsstreit zwischen linkem und gemäßigtem Flügel streicht das Neue Forum das Bekenntnis zur eigenstaatlichen DDR aus dem Programm.

Am 12. September 1989 unterzeichnen zwölf Bürgerrechtler den Gründungsaufruf von „Demokratie Jetzt“, unter ihnen der Physiker Hans-Jürgen Fischbeck, die Museumsmitarbeiterin Ulrike Poppe, der Theologe Wolfgang Ullmann sowie der Filmregisseur Konrad Weiß; die Mitgründerin des Demokratischen Aufbruchs Katrin Göring-Eckardt, die Arzneimittelforscherin Regine Hildebrandt und der Entwicklungsingenieur Wolfgang Tiefensee schließen sich an. „Was die sozialistische Arbeiterbewegung an sozialer Gerechtigkeit und solidarischer Gesellschaftlichkeit angestrebt hat, steht auf dem Spiel“, heißt es im „Aufruf zur Einstimmung in eigener Sache“.223 „Der Sozialismus muss nun seine eigentliche, demokratische Gestalt finden, wenn er nicht geschichtlich verlorengehen soll. Er darf nicht verlorengehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht, deren Wohlstand die übrige Welt bezahlen muss.“ Die Einheit Deutschlands ist in den „Thesen für eine demokratische Umgestaltung in der DDR“ als Ziel aufgeführt: „Wir laden die Deutschen in der Bundesrepublik ein, auf eine Umgestaltung ihrer Gesellschaft hinzuwirken, die eine neue Einheit des deutschen Volkes in der Hausgemeinschaft der europäischen Völker ermöglichen könnte. Beide deutsche Staaten sollten sich um der Einheit Willen aufeinander zu reformieren.“224 Am 6. Februar 1990 schließen sich Initiative Frieden und Menschenrechte, Neues Forum und „Demokratie Jetzt“ zum Wahlbündnis „Bündnis 90“ zusammen.

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