1 FÜNF JAHRE DANACH
Wieso eine Bilanz wichtig ist
Einige Monate bevor an einem Septemberwochenende im Jahr 2015 Tausende Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof mit Applaus und Bonbons empfangen wurden, lief ich als Reporter über die Bahnsteige. Schon damals, im November 2014, saßen täglich Migranten in den Zügen aus Italien. Ich wollte schauen, wie das ist: ankommen in Deutschland. Manchmal wartete die Polizei auf sie, nahm Personalien auf und schickte sie mit ein paar Zetteln, die sie nicht lesen konnten, zu einem Shuttle-Bus, der nicht kam. Manchmal wartete niemand. Dann verschwanden sie auf einer der vielen Rolltreppen in der Ungewissheit. Die wenigsten waren älter als Anfang 20.
Ein paar Wochen später, es war der Montag nach dem 2. Advent, stand ich in einer Menschenmenge in der Dresdner Innenstadt. Von einem Bühnenwagen hallten Parolen gegen »angeblich traumatisierte Flüchtlinge«, »Asylmissbrauch« und »Islamisierung« in die Nacht. »Wir sind das Volk!«, skandierte die Menge. Es waren die ersten Wochen von Pegida.
Da braute sich etwas zusammen. Dabei hatte 2015, das Jahr, das viele als Zäsur begreifen, noch nicht einmal begonnen.
Im August 2015 nahmen mich Ärzte mit in ein Flüchtlingslager. Das Camp befand sich am Stadtrand von Dresden, erinnerte mich aber an Nachrichtenbilder aus dem Libanon, wo damals Hunderttausende syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge ausharrten. In der Zeltstadt in Sachsen gab es zu wenig Toiletten und Desinfektionsmittel, auch fließend Wasser und Essen waren knapp; die Krätze hätte sich ausgebreitet, erzählten die Ärzte. Zwischen den Zelten jagten Kinder einen Fußball durch den Staub.
Immer wieder besuchte ich in den kommenden Monaten auch Schulen. Als Reporter, vor allem aber als Vormund für einen Afghanen, der als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Hamburg gekommen war. Das Engagement in den Schulen war groß, genauso aber der Frust. Bei den Lehrerinnen und Lehrern und bei denen, die in den Klassen saßen und nicht viel verstanden. Akkusativ? Bruchrechnung? Man experimentierte so vor sich hin, an jeder Schule ein bisschen anders. Wo es enden würde, wusste niemand.
Ich erlebte einen erstaunlich passiven Staat. Wenn man es wohlwollend sieht, könnte man sagen, er setzte viel Vertrauen in jeden Einzelnen. Sieht man es weniger wohlwollend, müsste man sagen: er ließ seine Einwohner1, die alten und die neuen, in einer Ausnahmesituation allein.
Es schien damals so, als würde ein einzelnes Wort genügen, um die deutsche Gegenwart zu beschreiben: Flüchtlingskrise. Der Begriff ist umstritten, weil er nahezulegen scheint, die Flüchtlinge wären für die Krise verantwortlich. Und nicht Bürgerkrieg oder Taliban, Bundesregierung oder Behörden. Ich verwende ihn, weil es keine präzisere Alternative gibt und er sich im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt hat. Es war ja auch eine Krise: zunächst einmal für die geflüchteten Menschen selbst, aber auch für viele aufnehmende Kommunen, für Behörden oder eben Schulen. Und über diese Krise zerstritten sich Familien, Volksparteien – und Lehrerzimmer.
Beschränkte sich der Kontakt zu Flüchtlingen für die meisten Deutschen, wenn überhaupt, zunächst auf Bahnhofshallen oder Discounterkassen, wurden die Schulen zu Orten echter Begegnung, man könnte auch sagen: Konfrontation. Über kaum etwas im Land brach die neue Wirklichkeit so unmittelbar herein wie über Grund-, Sekundar- und Berufsschulen. Während es zum T