Kapitel 1
Licht. Blendendes weißes Licht. Da steht ein Mann mit ausgestreckten Armen, den Rücken uns zugewandt. Er ist bis zur Hüfte nackt. Sein lockiges, schulterlanges Haar schimmert goldfarben. Wir können sein Gesicht nicht erkennen. Als wir uns dem Mann langsam von hinten nähern, beginnt sein Körper, das Licht abzuschirmen. Die Sonne geht unter. Seine Haare bilden einen Lichtkranz. Plötzlich springt der Mann nach vorn, und wir fliegen mit ihm, segeln durch die Luft, über die blaugrüne Landschaft, dem Sonnenuntergang entgegen.
Es ist ein beklemmendes Gefühl, mit dem ich an diesem Juniabend in meinem Adlerhorst sitze, wenige Tage vor meinem 67. Geburtstag im Jahr 2012. Mein Name ist Louis Doxtader, und dies ist meine Geschichte. Ich befinde mich im obersten Zimmer eines Hauses, das hoch auf einem Hügel neben einer geschäftigen Straße liegt, am Rande des heruntergekommenen Bergstädtchens Magagnosc in Südfrankreich. Das Gebäude ist gemietet und wird von einer liebenswerten, aber exzentrischen Frau geführt, die mich einlud, mit ihr den Sommer zu verbringen. Ich bezahle alle Rechnungen, und sie kümmert sich um mich, damit ich schreiben kann.
Nur sie weiß, was mich dazu antreibt, diese Geschichte zu erzählen. Sie kennt mein Geheimnis, da sie die Ereignisse selbst miterlebte, versteht, wie wichtig es für mich ist, deren Verlauf zu schildern, währenddessen sich Wundervolles zutrug – als Resultat einer vergangenen Handlung, die ich zutiefst bedauere. Ich will nicht, dass man mir vergibt, will stattdessen eine Art Erleichterung spüren. Ich kann die Vergangenheit nicht ändern, es aber auch nicht zulassen, dass ein Missverständnis von damals die Zukunft verändert. Nachdem Sie meine Geschichte gehört haben, werden Sie in der Lage sein, sich ein eigenes Bild zu machen.
An meinem kleinen Schreibtisch sitzend, kann ich von der erhöhten Aussichtsposition aus das Mittelmeer sehen, die entfernt gelegene Bucht von Cannes und den Hafen La Napoule. Unten im Tal liegt in der Nähe die Stadt Grasse, berühmt für ihre Parfümindustrie. Nur wenige der dort produzierten Düfte steigen zu mir auf, doch die von Kiefernduft erfüllte Luft der Berge, die mit ihren Pisten über dem Tal liegen, dringt manchmal zu mir hinab.
Mein Nachname Doxtader stammt vermutlich aus den Niederlanden, doch mein Urgroßvater kam ursprünglich aus Norwegen. Ich habe mein ganzes Leben in Großbritannien verbracht. Mein Vater Edvard – auch als Ted bekannt – wurde nach Edvard Munch benannt, Maler vonDer Schrei. In meiner Kindheit war das eine düstere, geradezu prophetische Vorstellung, die mich möglicherweise prägte, wie sich, so hoffe ich, herausstellen wird.
Munch lebte noch, als mein Vater geboren wurde, und meine Großeltern hatten den bekannten Mann getroffen und zeigten sich tief beeindruckt. Mein Vater Edvard war zwischen den Kriegen nach Großbritannien gezogen und hielt sich dort weiterhin auf, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Meine Mutter hat mir immer erzählt, dass er in dieser Zeit für das Kriegsministerium als Spion tätig gewesen sei, da Norwegen gegenüber Deutschland kapituliert habe. Man hatte ihn auf dem RAF Northolt Airport stationiert, von wo aus er an einigen Flugeinsätzen nach Norwegen teilnahm. Während der letzten Jahre der Feindseligkeiten traf und heiratete er mei