Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1945, wurde ich in einer kleinen Stadt in Westpommern geboren. Unsere Familie hatte dort Verwandte, und es schien sicher genug zu sein, um dort ein Kind auf die Welt zu bringen. Drei Tage später wurde das Krankenhaus evakuiert: Die Russen kamen in bedrohliche Nähe.
Da ich gleich nach der Geburt an Diphtherie erkrankte, meinte der Arzt zu meiner Mutter: »Versuchen Sie so schnell wie möglich, in den Westen zu kommen. Lassen Sie das Baby hier, es stirbt sowieso.«
Aber sie ließ mich natürlich nicht zurück. Sie schloss sich einem Treck an und landete in Neumünster in einem Auffanglager. Mein Vater war zu der Zeit als Offizier auf dem Russlandfeldzug und geriet in Gefangenschaft. Ich lernte ihn erst kennen, als ich fünf Jahre alt war.
Von Neumünster ging es nach Oldenburg in Oldenburg in das kleine Reihenhaus meiner Großeltern. In einem der oberen Zimmer stand mein Kinderbettchen. Als ich drei Jahre alt war, wurden dort zwei Flüchtlingsfrauen aus Ostpreußen zwangsuntergebracht und ich landete auf dem Dachboden. Ich erinnere mich, dass ich dort oben schreckliche Angst hatte. Es spukte, es knackte, es war unheimlich. Auch das Zusammenleben mit den Flüchtlingsfrauen gab immer wieder Anlass zu Auseinandersetzungen, weil eine der beiden heimlich im Zimmer rauchte. Besonders schlimm wurden die Streitereien, als das ganze Haus plötzlich mit Wanzen verseucht war. Mein Opa lief Amok. Für ihn war es eindeutig, dass die Damen die Schuldigen waren. Der Kammerjäger räucherte und räucherte. Ich fand den Gestank ätzend – ich glaube, er arbeitete mit Ammoniak –, aber trotzdem war die Aktion für mich ein spannendes Unterfangen: ein Jäger im Haus, dunkel angezogen, ein bisschen gespenstisch mit seiner Giftspritze. Jede Ecke wurde untersucht und eingesprüht. Ich folgte ihm neugierig auf Schritt und Tritt. Wie diese Monster wohl aussahen? Allerdings bekam ich nie eine Wanze zu Gesicht. Vielleicht hatte mein Opa das auch nur erfunden, um die Frauen loszuwerden, denn sie wurden danach umgesiedelt. Ich weiß es nicht. Mein Bett wurde wieder runtergestellt, ich schlief wie ein Murmeltier. Und dann, oh Schreck, war plötzlich auch noch der Holzwurm im Gebälk! Es rieselte und rieselte, aber dafür fand Opa keinen Schuldigen …
Im Ersten Weltkrieg war mein Opa schwer verwundet worden. Nach seiner Genesung hatte er bei der Reichsbahn gearbeitet, und auch im Rentenalter war er noch ein begeisterter Eisenbahner. Am Bahnhof zeigte er mir Züge mit der Aufschrift »DR«. Das bedeutete »Deutsche Reichsbahn«, aber er flunkerte: »Kuck mal, da sind meine Initialen auf jedem Waggon, DR!«
Sein Name war Diedrich Remmers. Ich war so stolz auf meinen Opa, auch weil er alle Bahnstrecken kannte, samt Zwischenstationen und Umsteigemöglichkeiten. Ich fand das phänomenal und wollte unbedingt auch zur Bahn, am liebsten natürlich als Lokomotivführer.
Opa wurde meine Hauptbezugsperson. Er und meine Oma hatten einen Sohn im Babyalter verloren, was vielleicht eine Erklärung dafür ist, warum er sich so um mich kümmerte. Ich war so etwas wie ein Ersatzsohn. Er radelte mit mir aufs Land zu Bauern, um etwas Essbares zu ergattern. Dort bekam ich dicke Brotschnitten mit Speck. Herrlich. Obwohl es sonst meistens nur wenig zu essen gab, oft nur Mahlzeiten mit Steckrüben und Kartoffeln in diversen Variationen, hatte ich nie ein Mangelgefühl. Es war einfach so. Opa ging mit mir spazieren und erklärte mir die Natur.
Als ich vier oder fünf Jahre alt war, meldete er mich im Turnverein an. Das war allerdings überhaupt nicht mein Ding, einmal und nie wieder. Ich konnte mit Barren, Reck und Ringen nichts anfangen. Er selbst muss wohl in seiner Jugend ein großer Turner gewesen sein. Im Garten hatte er eine Reckstange, wo er mir hin und wieder seine 15 Klimmzüge zeigte. Irgendwann schaffte ich immerhin zwei. Opa war glücklicherweise nicht enttäuscht, als meine Turnversuche scheiterten. Wir gingen einfach mehr spazieren, schauten den Anglern an einem Teich zu, kümmerten uns um unseren kleinen Gemüsegarten.
In dieser Zeit kam mein Vater aus der Gefangens