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2. Die soziale Frage im 19. Jahrhundert
In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, wie die protestantischen Unternehmer des schweizerischen Ausschusses für die Bestrebungen der Bonner Konferenz die soziale Frage analysierten, wie sie auf diese reagierten und welche sozialpolitischen Lösungsvorschläge sie propagierten. Dieses Kapitel führt in das Thema der sozialen Frage ein, insbesondere in die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus mit der sozialen Frage im 19. Jahrhundert. Dazu wird zunächst diskutiert, was gemeinhin unter der sozialen Frage im 19. Jahrhundert verstanden wird. Im Anschluss daran wird der Frage nachgegangen, wie die Kirchen auf die soziale Frage reagierten und welche sozialpolitischen Haltungen sich im Protestantismus herausgebildet haben. Um die Einstellung des schweizerischen Protestantismus und auch der protestantischen Unternehmer gegenüber der sozialen Frage systematisieren zu können, werden die vier idealtypischen sozialpolitischen Haltungen – Patriarchalismus, Sozialkonservativismus, Sozialdiakonie und Sozialliberalismus – vorerst skizziert. Ein besonderer Akzent liegt dabei auf dem Patriarchalismus, besonders seiner Herkunft und Verankerung in der Reformationszeit sowie seinen Stärken und Schwächen. Nach der Diskussion sozialpolitischer Haltungen wird in einem weiteren Abschnitt gezeigt, wie sich die soziale Frage speziell in der Schweiz äusserte. Daran anschliessend soll ausführlich das Verhältnis des schweizerischen Protestantismus zur sozialen Frage behandelt werden. Dazu wird gezeigt, wie sich die Zürcher Kirche, die schweizerische Predigergesellschaft, die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft sowie die theologischen Richtungen (Reformer, Vermittler und Bekenntnistreue) zur sozialen Frage äusserten. Ausgehend von der Annahme, dass die Unternehmer vor allem aus dem theologisch-konservativen und erwecklich-pietistischen Lager kamen, wird dabei besonders auch die Haltung der Bekenntnistreuen zur sozialen Frage thematisiert. Darüber hinaus soll kurz auf das Verhältnis des Katholizismus zur sozialen Frage eingegangen werden, bevor schliesslich in einem Fazit die Resultate diskutiert werden und nach deren Relevanz für die weitere Untersuchung gefragt wird.|20|
2.1 Die soziale Frage
Das «lange 19. Jahrhundert»15 war gekennzeichnet durch tiefgreifende politische, kirchliche und gesellschaftliche Auf- und Umbrüche.16 Ausgehend von der Französischen Revolution war der Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt durch den Kampf zwischen rationalistischen Modernisierern und konservativen Traditionalisten – um hier nur gerade die beiden grössten rivalisierenden politischen Weltanschauungen zu nennen. Kirchlich gesehen war das 19. Jahrhundert gekennzeichnet von der beginnenden Entkirchlichung, dem Kulturkampf sowie den verschiedenartigen Versuchen der Kirchen, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Gesellschaftlich schliesslich war das 19. Jahrhundert geprägt durch Veränderungen, die gemeinhin unter dem Begriff «soziale Frage» subsummiert werden. Unter diesem Begriff werden «Krisendiagnosen und entsprechende Bewältigungsstrategien seit der Herausbildung der Industriegesellschaft»17 zusammengefasst. An Stelle des Begriffs «soziale Frage» wird häufig auch der Ausdruck «Arbeiterfrage» verwendet, da sich in jenem Zeitraum die soziale Frage vornehmlich in der Verarmung|21| der Lohnarbeiter manifestierte.18 Die Voraussetzungen, welche die Herausbildung der Industriegesellschaft ermöglichten und insofern zur sozialen Frage führten, sind vielschichtig und äusserst komplex miteinan