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Der evangelische Gottesdienst als gemeinsames Gebet
Fundamentalliturgische und liturgiepraktische Herausforderungen
Alexander Deeg
1. Gottesdienst und gemeinsames Gebet oder: Die grundlegende Aporie des evangelischen Gottesdienstes
1.1 Der Gottesdienst – ein Gebet?
Eine gottesdienstliche Situation sei eingangs geschildert. Sie findet statt in der Leipziger Nikolaikirche, die seit den 1980er Jahren bis heute die Kirche der Montagsgebete ist. Nicht selten ist das derzeit meine gottesdienstliche Welt. Es ist Sonntag, später Vormittag. Eine Mischung aus Touristen auf den Spuren der friedlichen Revolution, Studierenden, die teilweise noch ein wenig müde in die Welt schauen, älteren Frauen, Professorenkollegen versammelt sich zum Universitätsgottesdienst. Es schlägt 11.15 Uhr, und nach den Glocken ertönt die Orgel. Schon nach wenigen Takten drehen sich viele um und blicken nach oben. Dort spielt der Universitätsorganist – bezaubernd, furios. In der sich anschließenden Begrüßung durch den Liturgen erfährt man auch, was wir eben gehört haben. Die Angabe ist genau: Komponist, Tonart, Nummer im Werkeverzeichnis werden erwähnt. Dann werden noch einige weitere Details zum musikalischen Programm verlesen. Worum es thematisch in der Predigt gehen wird, wird auch noch gesagt und schon ein wenig ausgeführt. In der zweiten Reihe links sitzt ein Herr, der einen Block auspackt und schon jetzt die ersten Notizen macht (weitere werden während der Predigt folgen). Am Ende der, wie ich nun bemerke, doch recht langen Begrüßung erfährt die Gemeinde dann auch noch, dass dies jetzt alles «im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes» geschieht. So etwa geht es weiter. Erhebende Musik, viele Worte – durchaus kluge – werden geboten, es kommt zu weiteren Notizen des Herren vorne links, manches Gähnen der Studierenden, gelegentlicher kritischer Blick der Professoren. Manche Touristen, denen es dann doch zu lange wird, verlassen die Veranstaltung noch vor der erneut furiosen Schlussmusik wieder. Draußen loben viele den Organisten und andere sagen, dass das doch mal wieder ein «schöner Gottesdienst» gewesen sei.
War es das? War diese eigentümliche Mischung aus guter Musik und propositional-argumentativem Diskurs mit einigen Versatzstücken einer traditionellen|40| Liturgie ein schöner Gottesdienst? Wenn das Gottesdienst war, wie weit und dehnbar ist dann unser Begriff davon geworden?
Freilich: Weder sind alle Begrüßungen im Leipziger Universitätsgottesdienst so ausführlich, noch ist dieser exemplarisch für den evangelischen Gottesdienst dieser Tage. Aber ich frage, ob sich in dieser Beobachtung nicht zugespitzt ein Problem zeigt, das m. E. als das Problem des evangelischen Gottesdienstes (jedenfalls im deutschsprachigen Bereich und landeskirchlichen Kontext) bezeichnet werden könnte. Ich spreche von der Verdrängung des Gebets und der Homiletisierung der Liturgie.109
1.2 Luthers Predigtbegeisterung als liturgisches Problem
Das Book of Common Prayer, das 2012 seinen 350. Geburtstag feierte, ist nicht nur dem Namen, sondern auch der Sache nach auf erstaunliche Weise einBuch des gemeinsamen Gebets. Gebetstexte – biblische wie außerbiblische – prägen die traditionelle Liturgie der anglikanischen Kirche. Vielfach stammen sie unmittel