|17| I. Menschenwürde und Bildung im evangelischen Bildungsdenken
1. Vorüberlegungen: Begriffe und Sachen
Nachdem in der Einleitung Gesagten ist die Aufgabe dieses Teils bereits weitgehend geklärt: Es muss nun darum gehen zu prüfen, wie sich der Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung im evangelischen Bildungsdenken widerspiegelt. Zugespitzt: Kann der Bezug auf die Menschenwürde tatsächlich als ein zentraler Schwerpunkt des evangelischen Bildungsverständnisses bezeichnet werden? Insbesondere ist dabei zu fragen, ob und wie dieses Denken auf die sechs genannten Probleme und Herausforderungen – von Realisierung, Motivation und Spezifikation, von Vergewisserung, Selbstverständigung und Pluralität – selbst antwortet und wie es weitergehend auch unter veränderten Herausforderungen auf diese Herausforderungen zu antworten erlaubt.
Dabei muss von vornherein deutlich sein, dass dieses Vorhaben auch eine kritische Dimension einschließt. Nicht nur ergeben sich aus den genannten Problemen kritische Einschätzungen hinsichtlich der Tragfähigkeit des evangelischen Bildungsdenkens selbst; vielmehr liegt schon in der Verknüpfung von Menschenwürde und Bildung insofern ein kritischer Impuls, als die Tradition des evangelischen Bildungsdenkens sich vielfach weit mehr auf die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen nach dem Sündenfall bezogen hat als auf Bildungsmöglichkeiten oder gar Bildungsansprüche jedes einzelnen Menschen. Der konsequente Bezug auf die Menschenwürde als Begründung für das Bildungsverständnis aktualisiert deshalb nicht einfach Traditionsbestände, die für unsere Gegenwart und Zukunft unverändert übernommen werden sollen, sondern dieser Bezug fordert auch das evangelische Bildungsdenken neu zu einer kritischen Selbstprüfung heraus. Zugleich erwachsen aus einem evangelischen Verständnis kritische Anfragen an andere Auffassungen von Bildung.
Den Reflexionsraum im Folgenden stellt das evangelische Bildungsdenken in seiner Herausbildung seit der Reformation dar, auch wenn es hier nur in der Gestalt exemplarischer Vertiefungen aufgenommen|18| werden kann.9 Die mit der geschichtlichen Entwicklung des evangelischen Bildungsdenkens angesprochene Weite ist erforderlich, weil sonst wesentliche Entscheidungen und Entwicklungen, die – für diese Tradition gesprochen – bereits in früher Zeit fallen, nicht angemessen in den Blick kommen können. Doch erweist sich die Frage nach Menschenwürde und Bildung rasch als eine ausgesprochen moderne, insbesondere auf unsere eigene Gegenwart bezogene Fragestellung. Denn die Begriffe von Menschenwürde und Bildung werden in ihrer Verknüpfung erst im 20. Jahrhundert für das evangelische Bildungsdenken zentral. Diese Beobachtung darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch im vorliegenden Falle die entsprechenden Begriffe jünger sein können als die damit bezeichneten Sachen oder Sachverhalte. Auch wenn es gewiss einen Unterschied macht, ob solche Begriffe verfügbar sind oder nicht, ist es durchaus denkbar und möglich, das, was heute mit Hilfe der Begriffe Menschenwürde und Bildung thematisiert wird, auch ohne diese Begriffe zumindest der Sache nach aufzunehmen. Deshalb wird im Folgenden insofern zwischen Begriff und Sache unterschieden, als das mit Menschenwürde und Bildung Gemeinte auch dort gesucht – und zum Teil gefunden – wird, wo die entsprechenden Begriffe (noch) fehlen. Hilfreich ist es dabei, auch den Begriff der Gottebenbildlichkeit mit einzubeziehen, obwohl auch dieser Begriff in der Gründerzeit des evangelischen Bi