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Hermeneutik
Bei unseren Überlegungen zum Sinn der Methodenreflexion sowie zum Begriff der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ stießen wir bereits auf den Sachverhalt des „Verstehens“. Wir sahen, dass es umstritten ist, diesen innerhalb einer Wissenschaft zu berücksichtigen, weil damit keine „exakte“ Wissenschaft betrieben werden könne. Nun sind jedoch insbesondere die Vertreter der Geisteswissenschaften der Auffassung, dass ein so elementarer Vorgang wie das Verstehen nicht als „vorwissenschaftlich“ ausgeklammert werden darf, sondern dass man ihn eigens zum Gegenstand der wissenschaftlichen Reflexion machen muss und dies auch kann. Es ist der Inhalt derHermeneutik, den Verstehensvorgang zu untersuchen und ihn zu strukturieren. Hierbei soll nicht zuletzt eine bestimmte Objektivität des Verstehens-Inhaltes aufgewiesen werden; mit diesem Anliegen hängt es zusammen, dass immer wieder versucht wurde, bestimmte hermeneutische Regeln aufzustellen; auf deren Bedeutung werden wir später noch zurückkommen. A. Diemer (1977, 15) bietet die folgende Definition: „Hermeneutik ist eine theoretische (philosophische) Disziplin, die das Phänomen ‚Verstehen‘, seine Elemente, Strukturen, Typen usw. sowie auch seine Voraussetzung untersucht. Dazu gehört dann auch … die ,angewandte Hermeneutik‘.“
Das Wort „Hermeneutik“ kommt aus dem Griechischen (Broecken 1975, 219). Das zugehörige Verb heißtἐpμηνεύειν (hermeneúein) und bedeutet dreierlei:aussagen (ausdrücken),auslegen (erklären) undübersetzen (dolmetschen). Diese Bedeutungen scheinen auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben; ihnen liegt jedoch eine Grundbedeutung zugrunde: etwas soll zum Verstehen gebracht werden, Verstehen soll vermittelt werden. Also: wenn ich einen Sachverhalt ausdrücke und so zu einer Aussage komme, möchte ich, dass andere diesen verstehen. Das Gesprochene seinerseits soll (von den anderen) verstanden werden; sie müssen es auslegen, deuten. Eine Auslegung, „Interpretation“ liegt insbesondere dann vor, wenn Fremdsprachliches verstanden werden soll. Das lateinischeinterpretare entspricht dem griechischenhermeneúein, und deshalb heißt der „Dolmetscher“ im Englischeninterpreter, d. h. er35ist beim Übersetzungsvorgang derjenige, der „interpretiert“, auslegt. Wer wüsste vom Erlernen und vom Gebrauch von Fremdsprachen her nicht, dass eine wörtliche Übersetzung meist schlecht oder gar falsch ist und dass der ausgesagte Sachverhalt vom „Geist“ der einen Sprache in den „Geist“ der anderen herübergeholt werden muss?
Unter Hermeneutik haben wir somit die „Kunst der Auslegung“ zu verstehen. Bei dem Begriff „Kunst“ schwingen jedoch Assoziationen mit, die den eigentlichen Sinn verdecken. Von einem romantisch geprägten Kunstverständnis herkommend, legen wir dort das Genialische, Subjektive hinein. In diesem Sinn hätte eine „Kunst der Auslegung“ in einer Wissenschaft wenig zu suchen. Zwar werden wir bei Dilthey noch sehen, dass die Kongenialität beim Verstehensprozess eine Rolle spielt; dennoch muss „Kunst“ in diesem Zusammenhang viel nüchterner verstanden werd