: Jürg Stolz, Judith Könemann, Mallory Schneuwly Purdie, Thomas Engelberger
: Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft Vier Gestalten des (Un-)Glaubens
: TVZ Theologischer Verlag Zürich
: 9783290201128
: 1
: CHF 24.50
:
: Bibelausgaben
: German
: 282
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Religiosität und Spiritualität zeigen sich in der Schweiz - so die These dieser Studie - in vier grossen Milieus: 'Institutionelle' sind traditionell und freikirchlich christlich, 'Alternative' setzen auf Esoterik und spirituelle Heilung, 'Säkulare' sind indifferent oder religionsfeindlich. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung aber gehört den 'Distanzierten' an. Ihnen ist Religion nur in bestimmten Situationen wichtig, ihre religiösen und spirituellen Überzeugungen sind oft diffus. Anhand repräsentativer Umfragen und Tiefeninterviews zeigen die Autoren, wie sich diese Milieus innerhalb der letzten fünf Jahrzehnte aufgrund von Wertwandel und sozialen Trends tiefgreifend verändert haben.

Dr. Jörg Stolz, Jahrgang 1967, ist Professor für Religionssoziologie an der Universität Lausanne.

2 Theorie: Religiös-säkulare Konkurrenz in der Ich-Gesellschaft


Jörg Stolz, Judith Könemann

«Statt der betenden Wallfahrtszüge sieht man Sänger, Turner,
Feuerwehrmänner, Schützen, Jahrgänger, Sonntagsschänder
in Gesellschaft moderner Damen Berg und Thal überfluthen,
in ungestümer Hast und unbezämbarer Gier
nach freiem Athem und Lebensgenuss haschen»

Pius-Annalen, 1875

In diesem Kapitel stellen wir eine neue Theorie religiös-säkularer Konkurrenz vor, die versucht, die zu beobachtenden Veränderungen der Religion in der Gesellschaft zu erklären. Bisherige Erklärungsversuche haben zwar wichtige Einsichten zutage gefördert, sie weisen aber auch verschiedene Mängel auf. Insbesondere sind diese Ansätze manchmal zu beschreibend und zu unhistorisch. Die hier vorgelegte Theorie soll im Unterschied dazu in der Lage sein, die Phänomene in deutlicher Nähe zu den spezifischen historischen Gegebenheiten zu erklären. In diesem Kapitel behandeln wir zunächst die wichtigsten bisherigen Thesen und Theorien: die Säkularisierungstheorie, die Individualisierungstheorie und die Markttheorie. Anschliessend stellen wir unseren eigenen Erklärungsansatz, die Konkurrenztheorie religiös-sozialen Wandels, vor. Aus dieser Theorie lassen sich verschiedene Hypothesen ableiten, die im Verlauf des Buchs empirisch getestet werden.23|21|

2.1 Theorien zu Religion und Moderne


Säkularisierungstheorie24


Die wichtigsten Klassiker der Soziologie – Auguste Comte, Herbert Spencer, Max Weber, Emile Durkheim und Karl Marx – waren allesamt überzeugt, dass die Folgen der Aufklärung, das Voranschreiten der Industrialisierung und die zunehmende Arbeitsteilung langfristig zu einem Niedergang des Religiösen führen müssten. Sie haben die Tradition begründet, die wir hier als «Säkularisierungstheorie» bezeichnen. Auguste Comte25 etwa dachte, die menschliche Gesellschaft entwickle sich gesamthaft von einem theologischen über ein metaphysisches zu einem vollständig wissenschaftlichen Stadium. Die Wissenschaft (und vor allem die Soziologie) würde also – so Comte – die Religion ersetzen. Max Weber26 war der Meinung, vor allem der Protestantismus habe (ungewollt) zur Entwicklung des modernen Kapitalismus geführt. Einmal entstanden, stosse die moderne kapitalistische Gesellschaft das Religiöse als eine ihr fremde «Wertsphäre» jedoch immer mehr ab.27 Durkheim28 schliesslich argumentierte, die moderne Gesellschaft zeichne sich durch eine immer stärkere Arbeitsteilung aus, was die Religion, die ursprünglich alles umfassen konnte, immer mehr schwäche.29

Verschiedene Religionssoziologen haben die Säkularisierungstheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgenommen und fortentwickelt.30 Sie heben jedoch je unterschiedliche zentrale Merkmale des Modernisierungsprozesses hervor. Wilson31, Luhmann32 und Casanova33 etwa halten das schon von Durkheim und Weber beobachtete Element derAusdifferenzierung der Gesellschaft für