: Achim Landwehr
: Diesseits der Geschichte Für eine andere Historiographie
: Wallstein Verlag
: 9783835345089
: 1
: CHF 21.60
:
: Geschichte
: German
: 380
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Sind wir alle gleichzeitig jetzt? Geschichtsschreibung unter den Bedingungen der Vielzeitigkeit. Die Geschichte - sie ist überall präsent. Seit mehr als zwei Jahrhunderten sind nicht nur westliche Gesellschaften gewohnt, in diesem Kollektivsingular zu denken und mit ihm zu leben. Dieser übermächtigen Gesamtheit alles Geschehen(d)en wird nicht nur eine umfassende Wirkmacht, sondern eine ebenso grundlegende Erklärungsfunktion zugeschrieben. Das paradoxe Ergebnis: Alles hat eine Geschichte, außer die Geschichte selbst. Spätestens jedoch seit sich die europäisch-westlich geprägte Geschichtswissenschaft mit ihrem sehr speziellen Begriff von Geschichte im Rahmen postkolonialer Diskussionen auch mit anderen Verständnissen von Zeitlichkeit und Veränderung konfrontiert sieht, wird deutlich, wie problematisch dieses Geschichtsverständnis ist. Allein, es mangelte an Alternativen. Mit dem zentralen Begriff der Chronoferenz wird in diesem Buch ein theoretischer wie auch in Einzelstudien erprobter Vorschlag für eine andere Art der Historiographie gemacht - ein Vorschlag, der die Fähigkeit des Menschen ernst nimmt, gleichzeitig in und mit unterschiedlichen Zeiten zu leben. Denn keine Gegenwart ist gleichzeitig mit sich selbst. »Jede Gegenwart hat die Eigenschaft, ungleichzeitig mit sich selbst zu sein, weil in ihr immer schon so viele andere Zeiten vorkommen.« Achim Landwehr

Achim Landwehr, geb. 1968, ist Historiker und Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Alte Zeiten, Neue Zeiten
Aussichten auf eine Zeiten-Geschichte


Zeit-Probleme


Zeit kann beunruhigen. Man verabschiede sich gedanklich nur für einen kurzen Moment von der Orientierungsfunktion, die Formen der Zeitmessung in unserem Alltag übernehmen, schon gerät das Denken ins Trudeln und die Turbulenzen der Zeit sorgen für eine erhebliche Desorientierung. Viele literarische und filmische Geschichten zu Zeitreisen und anderen temporalen Abenteuern machen sich diesen Umstand zunutze, stellen unsere gewohnten Auffassungen von Zeit infrage, wenn nicht gar auf den Kopf. Dabei verschwimmen nicht nur die Unterschiede zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern kommen auch Aspekte des Verhältnisses von gemessener und gelebter Zeit ins Spiel, drängt sich das Problem unserer existenziellen Abhängigkeit von Zeit bei ihrer gleichzeitigen Unfassbarkeit in den Vordergrund und werden die temporalen Kulturen deutlich, denen sich Gesellschaften in unterschiedlichen Formen verpflichtet haben.

Ohne das Phänomen der Zeit in ungebührlicher Weise verniedlichen zu wollen, kann man es in gewisser Weise als ein Spiel verstehen, sich auf die Verunsicherungen einzulassen, die das Nachdenken über die Zeit hervorruft – und man wird feststellen, dass aus dem Spiel sehr schnell Ernst wird. Es gilt, sich der Verunsicherung durch die Zeit zu stellen, sie zum Gegenstand zu machen und damit der Zeit auch eine Geschichte, eine historische Dimension zu geben, die nicht immer recht wahrgenommen wird (zumindest, wenn man von den standardisierten Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Zeitmessung absieht, bei denen es sich nicht selten um klassische Fortschrittsnarrative handelt). Lässt man sich auf die Verunsicherung ein, dann wird es möglich, die Zeit auf andere Art und Weise zu befragen, sie als selbstverständliches und gleichzeitig rätselhaftes Phänomen in den Mittelpunkt zu rücken.

Aber muss das Schweinwerferlicht denn noch einmal auf die Zeit als Problem gerichtet werden? Ist denn zur Zeit nicht bereits alles gesagt, und zwar vielfach? In der Tat scheint zu diesem Thema jeder Stein bereits mehrfach umgedreht worden zu sein, jedes Phänomen ist bedacht, jeder Aspekt beleuchtet worden. Jede philosophische Schule hat sich mehr oder minder intensiv mit der Zeit beschäftigt, jede theoretische Ausrichtung hat sich diesem Phänomen gewidmet. Wenn man die Bibliotheken nach Publikationen zum Thema ›Zeit‹ durchforstet, kann einem schwindelig werden. Dieser Umstand bringt mich in ein Dilemma, da es ja üblicherweise zu den Begründungsschemata wissenschaftlicher Veröffentlichungen gehört, ihr Zustandekommen durch die nicht ausreichende Beachtung, wenn nicht sogar gänzliche Vernachlässigung einer bestimmten Thematik zu rechtfertigen. Im Falle der Zeit ist das kaum möglich. Zu diesem Gegenstand sind nicht nur die sprichwörtlichen, sondern auch die tatsächlichen Bibliotheken bereits gefüllt worden. Die Literatur ist schon lange nicht mehr zu überschauen, es gibt zahllose Buchreihen, diverse Zeitschriften[1] und ganze Forscherleben, die diesem Gegenstand gewidmet wurden. Wer will da noch mitkommen? Insbesondere im Kontext von Soziologie, Philosophie und Ethnologie – um die weit ausgreifenden naturwissenschaftlichen Diskussionen hier einmal beiseitezulassen – hat die Zeit vielfache Aufmerksamkeit erfahren.[2]

Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage: Warum noch weitere Ausführungen zur Zeit? Könnte man mit seiner Zeit (sic!) nicht Besseres anfangen? Der einzige Rettungsanker scheint ironischer Art zu sein, so dass man mit Karl Valentin zur Rechtfertigung sagen könnte, es sei zwar schon alles gesagt worden, nur noch nicht von jedem.

Aber selbst bei einem s