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Sie sang. »Somewhere over the rainbow«. Irgendwo über dem Regenbogen. Sie bewegte sich gar nicht, stand nur da, leicht vorgebeugt, den Mund nah am Mikrofon, als wäre es eine Kerze, deren zarte Flamme sie hüten und beschützen müsste. Die Musiker, die hinter ihr auf der Bühne ihre Instrumente bearbeiteten, sah man kaum, blasse, unwirkliche Schemen, die sich in den Schatten der Scheinwerfer verloren, aber eigentlich waren die Musiker auch gar nicht wichtig; eigentlich ging es nur um die Sängerin. Einmal, in einer Bewegung, die so anmutig war, dass sie eindeutig in ein anderes Universum gehörte, strich sie sich eine Strähne ihres schneeweißen Haares zurück. Ansonsten waren da nur ihr bleiches Gesicht, ihr schmaler tiefroter Mund und diese helle kristallklare Stimme, die den ganzen Raum erfüllte.
Mehr Wirklichkeit gibt es nicht und wird es nie geben, dachte Brasch.
Die Stimme der Frau warf jeden Zuhörer aus der Bahn, schleuderte ihn in ein unerforschtes Land: Somewhere over the rainbow. Farben waren in ihrer Stimme; nein, ihre Stimme war ein Tor, und wenn man durch dieses Tor hindurchging, hatte man ein Stück von einem riesigen Diamanten vor sich. Schönheit oder ewiges Leben hieß dieser Diamant; man sah ihn fast nie; nur in solchen seltenen Momenten konnte man erahnen, wie riesig und zeitlos er war.
Am Ende, während der letzte Ton noch irgendwo in einer Ecke des Saales verhallte, neigte die Sängerin leicht den Kopf, lächelte verlegen, als wäre nicht ihr Publikum, sondern sie aus einem wunderbaren Traum erwacht.
Brasch beobachtete, wie die Sängerin verschwand. Sie schwebte von der Bühne, zurück in die Dunkelheit, wie ein weißer Engel, der sich eher zufällig in das Scheinwerferlicht verirrt hatte. Frank Mehler, sein Kollege von der Mordkommission, begann neben ihm heftig zu applaudieren. Der ganze Saal schien plötzlich zu toben. Allein Brasch rührte sich nicht. Er hatte noch nie so eine Stimme gehört; schüchtern, zweifelnd, voller Sanftmut, dann wieder voller Kraft und Selbstgewissheit.
»Wer ist diese Frau?«, fragte er Mehler, der ihm die Karte zu diesem Konzert besorgt hatte, doch sein Kollege verstand die Frage in dem ohrenbetäubenden Lärm gar nicht. Er lächelte nur glücklich vor sich hin und applaudierte noch frenetischer.
Zaghaft lächelnd, aber mit geschlossenen Augen kehrte die Sängerin auf die Bühne zurück. Auf magische Weise schien sie ihren Weg zu kennen. Als sie vor ihrem Mikrofon stand, wurde es sofort wieder still. Irgendwo aus dem Nirgendwo hinter ihr erklangen die ersten Takte. Die Musiker trauten sich nun gar nicht mehr aus ihren Schatten heraus. Die Zugabe, das große Finale war allein für ihre Sängerin reserviert. Mit geschlossenen Augen stimmte sie »Fever« an, flüsterte ihre Worte mehr, als dass sie sang. Brasch erkannte plötzlich, was das Besondere an dieser Sängerin war. Es war der Schmerz, ein naiver, beinahe heiterer Schmerz, der all ihre Lieder zusammenhielt. Die Sängerin war dieser Schmerz; und mit jeder Silbe, die sie sang, hauchte sie diesen Schmerz hinaus und machte ein Stück Schönheit aus ihm.
Das Publikum applaudierte noch immer, als das Licht bereits angesprungen war und zwei Männer die Bühne betraten, um die Mikrofonständer und Instrumente abzubauen. Der Traum war zu Ende. Unwiderruflich.
Brasch spürte, wie erschöpft er war. Über zwei Stunden hatte die blonde Sängerin auf der Bühne gestanden, und er hatte sich nicht von der Stelle gerührt, sondern sie nur gebannt angeschaut.
»Großartig«, rief Mehler. »Sie ist einfach großartig, und wenn sie wollte, könnte sie ein echter Star werden.« Er klang ganz gegen seine Gewohnhe