[Statement für eine Podiumsdiskussion im Rahmen des Symposiums »Im Westen was Neues – Europa zwischen Postatlantismus und Postkommunismus« an der Volksbühne in Berlin (13./14. Mai 2003).]
Das Einzige, was über den Westen feststeht, ist, dass es nicht der Osten ist. Im Englischen aber – wie es im Deutschen ist, weiß ich nicht – ist es schwer zu sagen, wo der Osten liegt. Betrachtet man akademische Disziplinen, stellt man fest, dass das alte Mesopotamien im Nahen Osten liegt, der Irak aber im Mittleren Osten: Je näher es uns zeitlich kommt, desto weiter weg rückt es geografisch. China und Japan liegen im Fernen Osten, Indien aber liegt – trotz seiner östlichen Religionen – überhaupt nicht im Osten, sondern in Südasien. Orientalismus lautet unser Begriff für westliche Vorstellungen und Missverständnisse den Osten betreffend, doch die beiden klassischen Studien dazu, von Edward Said und Raymond Schwab, beschäftigen sich mit dem Mittleren Osten beziehungsweise mit Indien, und die Schlussfolgerungen der einen sind nicht auf die andere übertragbar. Und natürlich erschuf zu unserer Zeit der Kalte Krieg einen neuen Osten, einen, in dem, aus westlicher Perspektive, kein Unterschied zwischen Ostdeutschen und Nordkoreanern bestand.
Das einzige, was über den Osten feststeht, ist, dass es nicht der Westen ist. Doch es ist schwer zu sagen, wo der Westen liegt. In vieler Hinsicht ist er sogar noch schwerer zu lokalisieren als der Osten. Man kann durchaus behaupten, dass es zweitausend Jahre lang – grob gesagt von 500 v. Chr. bis 1500 n. Chr. – ein griechisch-römisch-jüdisch-christlichislamisches Kontinuum gab, eine untereinander verbundene, sich gegenseitig nährende, wenn auch häufig untereinander Krieg führende Zivilisation, die weitgehend isoliert von den damaligen Reichen oder Großstaaten in Mittelamerika, den Anden, China, Indien und Subsahara-Afrika und vollkommen ander