2. Kapitel
Corinna Liersen ging vor dem Flipchart auf und ab. Die braunen Haare der sportlich aussehenden Frau gingen bis zu den Schultern, vorne waren sie zu einem Pony geschnitten.
»So«, sagte sie, »das wären die einzelnen Etagen. Die oberste habe ich noch nicht erwähnt. Dort ist die Schwerstpflegestation. Wobei ich sagen muss, dass gegenwärtig keine bettlägerigen Bewohner darunter sind. Wir haben vier Rollstuhlfahrer, die anderen Bewohner des Stockwerks sind mit Rollatoren oder Gehhilfen unterwegs.«
Corinna Liersen war die stellvertretende Heimleiterin. Von Beruf Sozialpädagogin. Sie hatte sich mit den beiden Ergotherapeuten in der Ergotherapieabteilung getroffen, um die Arbeitseinteilung vorzunehmen. Sie machte ein ziemliches Aufheben deswegen.
Den Flipchart beispielsweise hätte es nicht gebraucht, dachte Hendrik. Darauf waren nur die einzelnen Etagen mit dem Vermerk aufgeführt, dass seine Kollegin die ersten drei Etagen betreuen sollte und er die Etagen vier und fünf. Das hieß, dass er für die Stockwerke mit den Demenzkranken und den körperlich Schwerstbehinderten zuständig war. Die Liersen hatte das so erklärt:
Da er, Hendrik, jahrelange Psychiatrieerfahrung mitbrachte und schon mit Dementen gearbeitet hatte, hätte sie ihn für die betreffenden Etagen ausgewählt. Die Bewohner, die seine Kollegin zu betreuen habe, seien geistig und körperlich zwar fitter, doch habe sie dafür drei Etagen – also eine mehr – zu betreuen.
»Insgesamt haben wir hundertfünfzig Betten im Haus. Doch keine Angst. Wir verlangen nicht, dass sie mit allen Bewohner arbeiten. Dieser Wunsch wäre Utopie. Wir haben noch genug ehrenamtliche Mitarbeiter und Honorarkräfte, die Angebote für die rüstigen Bewohner anbieten.«
»Hört sich gut an«, sagte Hendrik. »Gefällt mir, dass man sich hier so engagiert zeigt.«
Es war tatsächlich beeindruckend. So etwas kannte er aus der Psychiatrie nicht, obwohl der Stellenschlüssel dort besser gewesen war. Hendrik fand das Angebot des Altenheims gut. Trotzdem war er etwas angesäuert. Er hätte nichts dagegen gehabt, die fitteren Patienten zu betreuen. Die Arbeit mit schwierigen Patienten kannte er zur Genüge. Damit hatte er lange genug gearbeitet. Da war Frust und Ärger vorprogrammiert. Nun gut, nicht zu ändern.
»Sie haben jetzt zwei Wochen Zeit, die Bewohner kennenzulernen. In dieser Zeit können Sie ihre Gruppen zusammenstellen. Das überlassen wir ganz Ihnen. Die Chefin und ich haben gedacht, dass jeder von Ihnen ungefähr dreißig bis fünfunddreißig Bewohner betreuen könnte. Dann habe ich da noch einen Punkt, den ich mit Ihnen, Herr Keller, klären muss. Es betrifft das Anziehtraining der Bewohner auf den verschiedenen Etagen. Das gehört zum Standard der therapeutischen Betreuung. Sie müssten sich für alle Etagen für das Anziehtraining verantwortlich zeigen, da Frau Wolf einen schulpflichtigen Sohn hat. Sie muss ihn jeden Morgen zur Schule bringen und wird ihre Arbeit erst später als Sie beginnen können. Bis sie hier ist, ist das Anziehtraining in der Regel schon beendet …«
Hendrik unterbrach sie.
»Heißt das, ich mache das Anziehtraining allein? Frau Wolf hat diesbezüglich keine Bewohner zu betreuen?«
Corinna Liersen sah ihn erstaunt an. »Ja, das heißt es. Ist das für Sie etwa nicht in Ordnung?« Der drohende Unterton der Frage war nicht zu überhören.
Toll, dachte Hendrik. Allein für das Anziehtraining zuständig. Im Anziehtraining konnte man ungefähr drei Bewohner betreuen, je nachdem wie das Anziehtraining aufgebaut war, doch wenn er für alle Etagen zuständig war, gab es dabei keine Ruhephase. Das war schon eine deutliche Arbeitsbelastung. Die Kollegin durfte später mit der Arbeit beginnen. Ziemlich ungerecht, fand er. Doch was sollte er machen? Würde er sich dagegen aussprechen, würde er als unkollegial, wenn nicht sogar, hier in einer sozialen Einrichtung, als asozial gelten. Also machte er gute Miene zum bösen Spiel und sagte: