HAMBURG HBF
»Last Christmas, I gave you my heart …«
Der alteWham-Hit drang aus dem Kopfhörer des Mannes, der neben ihm am Bahnsteig stand und wartete. In der riesigen Halle des Hamburger Hauptbahnhofs, wo sie die weit gespannte Decke aus Stahl und Glas vor dem eisigen Regen draußen schützte, glitzerte und leuchtete es aus allen Ecken. Doch weder bunte Girlanden und Lichterketten noch der üppig geschmückte Baum in der Vorhalle konnten Bruno Häusler in weihnachtliche Stimmung versetzen. Ihm war einfach nur kalt, und er konnte es kaum erwarten, sich auf seinen reservierten Platz zu setzen, die Beine auszustrecken und die Augen zu schließen. Vielleicht gelang es ihm sogar, ein Weilchen zu schlafen, während der Zug den Bahnhof verließ.
Müde genug war er, hatte er doch noch bis zum späten Nachmittag in der Praxis gesessen und Abrechnungen bearbeitet. So kurz vor dem Jahresabschluss konnte er den Papierkram ja nicht einfach liegen lassen. Und seit der Trennung von seiner Frau, die ein Händchen für alles Buchhalterische hatte, blieb diese lästige Tätigkeit an ihm, dem Mediziner, hängen.
In den letzten Tagen hatte ihn seine Arbeit so sehr in Beschlag genommen, dass er nicht einmal dazu gekommen war, Geschenke für seine beiden Kinder zu kaufen. Kinder – was für ein unpassendes Wort für zwei fast erwachsene Menschen. Aber egal, in welchem Alter der Nachwuchs auch war, für ihn würden sie immer seine Schützlinge bleiben, deren Lebenswege er mit wohlwollender Kritik begleitete, wenn auch aus großer Distanz. Denn die Scheidung vor zwei Jahren hatte die Familie zerrissen und in entgegensetzte Richtungen getrieben. Er lebte und arbeitete in Hamburg, seine Frau und die Kinder wohnten in München – viel weiter entfernt ging in Deutschland kaum.
Er trat seine Reise also mit leeren Händen an. Was wohl niemanden überraschen würde. Letztes Weihnachten war Bruno Tochter Lisa und Sohn Max ebenfalls ohne Präsent gegenübergetreten, aber er hatte sie stattdessen zu einem gemeinsamen Musicalbesuch eingeladen. Sie fanden es »cool« und unkonventionell, zumindest hatten sie das ihm gegenüber behauptet. Diesmal würde er es ähnlich handhaben. Ihm blieb im Zug ja ausreichend Zeit, um darüber nachzudenken, über was sie sich freuen könnten.
Eine blecherne Stimme kündigte die Ankunft desICE 885 »Hans Fallada« an, wenig später sah Bruno die Frontlichter des schnittigen Zuges am Ende der Halle auftauchen. Überpünktlich, wie Bruno mit einem Blick auf die Uhr feststellte. Also würde derICE planmäßig um 18:01 Uhr weiterfahren, um schließlich gegen 23:40 Uhr am Münchner Hauptbahnhof einzutreffen. Dies war die letzte durchgehendeICE-Verbindung an Heiligabend.
Der Triebwagen rauschte an ihm vorbei, es folgten Waggons der ersten Klasse, dann der Speisewagen mit dem charakteristischen Buckel auf dem Dach und dahinter die zweite Klasse. Als der Zug zum Stehen kam, brauchte Bruno nur ein paar Schritte zu gehen, um seinen Wagen mit der Nummer 9 zu erreichen. Im getönten Glas der Tür fing er für einen Moment sein Spiegelbild auf und erschrak, wie erschöpft er aussah. Lag das allein am Stress der Vorweihnachtstage, oder setzte ihm die Nervosität vor einem der seltenen Familientreffen zu?
Mit einem leisen Zischen öffnete sich die Tür. Bruno ließ eine ältere Frau aussteigen, dann