: Ute Frevert
: Mächtige Gefühle Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung - Deutsche Geschichte seit 1900
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104913131
: 1
: CHF 24.00
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: Psychologie: Allgemeines, Nachschlagewerke
: German
: 496
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Gefühlswelten der Deutschen: Die Historikerin Ute Frevert erzählt eine ganz andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Gefühle machen Geschichte. Sie prägen und steuern nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Gesellschaften. Politiker nutzen sie, können aber auch darüber stolpern. Ute Frevert erzählt von machtvollen Gefühlen und was sie bewirkten: im Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem NS-Staat, der DDR und der alten und neuen Bundesrepublik. Sie stellt Liebe und Hass, Scham und Stolz, Empörung und Trauer in ihren wechselnden Ausprägungen und Bedeutungen vor. So war Hass ein Motor des Nationalsozialismus, doch in einer Demokratie ist er fehl am Platz. Mit der Liebe verbanden Menschen um 1900 andere Sehnsüchte als heute. Ute Frevert zeigt, warum sich Deutsche 1914 für den Krieg begeisterten und 2006 auf die Fußballnationalmannschaft stolz waren, und geht dem Neid ebenso nach wie dem Vertrauen. Das Buch schließt an die Ausstellung »Die Macht der Gefühle. Deutschland 19/19« an, die Ute Frevert mit ihrer Tochter Bettina Frevert konzipiert und mit Texten versehen hat. Sie wurde über 2500-mal in ganz Deutschland gezeigt. Ute Frevert gelingt ein ganz besonderer Blick auf die Geschichte der Deutschen, die in den sechs unterschiedlichen Staaten der letzten 120 Jahre äußerst wechselhafte Gefühle durchlebten.

Ute Frevert zählt zu den wichtigsten deutschen Historikern. Sie lehrte Neuere Geschichte in Berlin, Konstanz und Bielefeld. Von 2003 bis 2007 war sie Professorin an der Yale University, seit 2008 leitet sie den Forschungsbereich »Geschichte der Gefühle« am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Sie wurde 1998 von der DFG mit dem renommierten Leibniz-Preis ausgezeichnet, 2016 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verliehen. 2020 erhielt Ute Frevert den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.

Das Buch und sein Bauplan


Wie Gefühlspolitik seit der vorletzten Jahrhundertwende in Deutschland aussah, welche Gefühle sie für welche Ziele und Zwecke propagierte und mobilisierte, erkundet dieses Buch. Gefühlspolitik gehört dabei nicht nur in die Sphäre der Staatskunst, der Medien oder des Kommerzes. Sie findet auch dort statt, wo Menschen ohne explizite Einladung oder offizielle Aufforderung von ihren Gefühlen sprechen, ihnen folgen und sich bewegen lassen, auf der Straße oder im stillen Kämmerlein.

Diese Bewegung hat Spuren hinterlassen. Die Historikerin begegnet ihnen auf Schritt und Tritt: in persönlichen Briefen und Tagebüchern, in Gerichtsprotokollen und höchstrichterlichen Entscheidungen, in (Kriegs-)Gedichten und Liedertexten, in Graffiti, auf Wandzeitungen und Werbeplakaten. Politische Ansprachen staatlicher Würdenträger, seit1949 meist zu Weihnachten und Silvester, adressierten ein weites Spektrum von Gefühlen und Gefühlspraktiken, die man bei den Bürgerinnen und Bürgern zu erkennen meinte, und versahen sie mit wertenden Kommentaren und Appellen.

Umgekehrt erhielten Präsidenten und Minister, Kanzler und Könige emotionale Post aus der Bevölkerung. In den Archiven lagern zahllose Briefe von Menschen aus allen sozialen Schichten, Frauen wie Männern, Alten und Jungen. Sie verspürten offenbar das Bedürfnis, ihre Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte, aber auch Wut und Empörung »an den Mann« zu bringen und ihr Herz auszuschütten. Ende1949 gingen beim Bundespräsidenten täglich einige hundert Briefe ein,1954 sprach Theodor Heuss von »Hunderten, wenn nicht Tausenden von Briefen«, die er »wenigstens flüchtig« durchsehe und, wenn sie »einen persönlichen Charakter haben«, auch persönlich beantworte.[13] Längst nicht alle wurden dauerhaft aufbewahrt. So neigte die Kanzlei des »Führers« nach1933 dazu, vornehmlich »nette« Briefe abzulegen.[14]

Trotz dieser Filter sind die überlieferten Schriftstücke eine ergiebige Quelle. Sie verleihen auch denen eine bis heute hörbare Stimme, die im offiziellen Gedächtnis der Nation meist stumm bleiben. Gleiches gilt für Texte, die sich in privatem Besitz befinden und eher zufällig in meine Hände gelangten. Dazu gehören die handschriftlichen Erinnerungen einer Mutter an ihren im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn oder die Rundbriefe ehemaliger Klassenkameraden, die1941 an die Front beordert wurden.[15] Sie geben Auskunft über die Valenz und Bindungskraft von Trauer, Begeisterung, Ehre, Liebe, Hass.

In all diesen und anderen Quellen ist nie nur von einem einzigen Gefühl die Rede. Wie im gelebten Alltag tauchen Gefühle gemischt auf. Häufig werden Wut, Hass und Angst verkoppelt, Sehnsucht (nach der Vergangenheit) und Hoffnung (auf die Zukunft), Liebe und Empathie, Stolz und Begeisterung. Dennoch präsentiert dieses Buch Gefühle einzeln und nicht als Wimmelbild. Die alphabetische Ordnung unterstreicht den Duktus eines Lexikons, von A wie Angst bis Z wie Zuneigung. Dort, wo Gefühle aufeinander verweisen, ist das im Text mit ▷ vermerkt, so dass die Leserin, der Leser vor- oder zurückblättern kann.

Warum aber habe ich mich für ein Lexikon der Gefühle entschieden statt für eine chronologisch geordnete deutsche Gefühlsgeschichte, die auf den Wechsel emotionaler Stile und Konjunkturen abhebt? Denkbar wäre auch eine Problemgeschichte gewesen, die einzelne Ereignisse oder Entwicklungen darauf untersucht, welche Gefühle ineinandergreifen, sich wechselseitig bestärken, behindern oder neutralisieren. So könnte man eine Gefühlsgeschichte der Kriege und Revolutionen, der Wirtschaftskrisen und Aufschwünge, der Staatsgründungen und Untergänge schreiben, abgebildet in einem Barometer, das den Auf- und Abstieg spezifischer Stimmungslagen markiert.

Allerdings geriete so die Historizität von Gefühlen, ihre Veränderlichkeit in Zeit und Raum aus dem Blick. Es fiele schwerer zu erkennen, dass Liebe um1900 nicht dasselbe war wie Liebe im Jahr2020. Die Metamorphosen des Hasses und des Ekels blieben ebenso unterbelichtet wie die sehr verschiedenen Formen