Das Buch und sein Bauplan
Wie Gefühlspolitik seit der vorletzten Jahrhundertwende in Deutschland aussah, welche Gefühle sie für welche Ziele und Zwecke propagierte und mobilisierte, erkundet dieses Buch. Gefühlspolitik gehört dabei nicht nur in die Sphäre der Staatskunst, der Medien oder des Kommerzes. Sie findet auch dort statt, wo Menschen ohne explizite Einladung oder offizielle Aufforderung von ihren Gefühlen sprechen, ihnen folgen und sich bewegen lassen, auf der Straße oder im stillen Kämmerlein.
Diese Bewegung hat Spuren hinterlassen. Die Historikerin begegnet ihnen auf Schritt und Tritt: in persönlichen Briefen und Tagebüchern, in Gerichtsprotokollen und höchstrichterlichen Entscheidungen, in (Kriegs-)Gedichten und Liedertexten, in Graffiti, auf Wandzeitungen und Werbeplakaten. Politische Ansprachen staatlicher Würdenträger, seit1949 meist zu Weihnachten und Silvester, adressierten ein weites Spektrum von Gefühlen und Gefühlspraktiken, die man bei den Bürgerinnen und Bürgern zu erkennen meinte, und versahen sie mit wertenden Kommentaren und Appellen.
Umgekehrt erhielten Präsidenten und Minister, Kanzler und Könige emotionale Post aus der Bevölkerung. In den Archiven lagern zahllose Briefe von Menschen aus allen sozialen Schichten, Frauen wie Männern, Alten und Jungen. Sie verspürten offenbar das Bedürfnis, ihre Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte, aber auch Wut und Empörung »an den Mann« zu bringen und ihr Herz auszuschütten. Ende1949 gingen beim Bundespräsidenten täglich einige hundert Briefe ein,1954 sprach Theodor Heuss von »Hunderten, wenn nicht Tausenden von Briefen«, die er »wenigstens flüchtig« durchsehe und, wenn sie »einen persönlichen Charakter haben«, auch persönlich beantworte.[13] Längst nicht alle wurden dauerhaft aufbewahrt. So neigte die Kanzlei des »Führers« nach1933 dazu, vornehmlich »nette« Briefe abzulegen.[14]
Trotz dieser Filter sind die überlieferten Schriftstücke eine ergiebige Quelle. Sie verleihen auch denen eine bis heute hörbare Stimme, die im offiziellen Gedächtnis der Nation meist stumm bleiben. Gleiches gilt für Texte, die sich in privatem Besitz befinden und eher zufällig in meine Hände gelangten. Dazu gehören die handschriftlichen Erinnerungen einer Mutter an ihren im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn oder die Rundbriefe ehemaliger Klassenkameraden, die1941 an die Front beordert wurden.[15] Sie geben Auskunft über die Valenz und Bindungskraft von Trauer, Begeisterung, Ehre, Liebe, Hass.
In all diesen und anderen Quellen ist nie nur von einem einzigen Gefühl die Rede. Wie im gelebten Alltag tauchen Gefühle gemischt auf. Häufig werden Wut, Hass und Angst verkoppelt, Sehnsucht (nach der Vergangenheit) und Hoffnung (auf die Zukunft), Liebe und Empathie, Stolz und Begeisterung. Dennoch präsentiert dieses Buch Gefühle einzeln und nicht als Wimmelbild. Die alphabetische Ordnung unterstreicht den Duktus eines Lexikons, von A wie Angst bis Z wie Zuneigung. Dort, wo Gefühle aufeinander verweisen, ist das im Text mit ▷ vermerkt, so dass die Leserin, der Leser vor- oder zurückblättern kann.
Warum aber habe ich mich für ein Lexikon der Gefühle entschieden statt für eine chronologisch geordnete deutsche Gefühlsgeschichte, die auf den Wechsel emotionaler Stile und Konjunkturen abhebt? Denkbar wäre auch eine Problemgeschichte gewesen, die einzelne Ereignisse oder Entwicklungen darauf untersucht, welche Gefühle ineinandergreifen, sich wechselseitig bestärken, behindern oder neutralisieren. So könnte man eine Gefühlsgeschichte der Kriege und Revolutionen, der Wirtschaftskrisen und Aufschwünge, der Staatsgründungen und Untergänge schreiben, abgebildet in einem Barometer, das den Auf- und Abstieg spezifischer Stimmungslagen markiert.
Allerdings geriete so die Historizität von Gefühlen, ihre Veränderlichkeit in Zeit und Raum aus dem Blick. Es fiele schwerer zu erkennen, dass Liebe um1900 nicht dasselbe war wie Liebe im Jahr2020. Die Metamorphosen des Hasses und des Ekels blieben ebenso unterbelichtet wie die sehr verschiedenen Formen