Für immer in die Seele gebrannt: Der Tag nach Hanau
Es war früh,5:50 Uhr, um genau zu sein, als der Wecker meines Handys klingelte, ich im Dunkeln danach tastete und den Ton ausschaltete. Ich sah, dass der Bildschirm voller Push-Nachrichten war, doch ich war noch zu müde und meine Augen zu schwach, um irgendetwas zu lesen. Leise ging ich in die Küche, um meine Tochter nicht zu wecken, machte mir einen Kaffee und ein Brötchen, nahm das Handy wieder in die Hand und las:
»Tote durch Schüsse in Hanau.«
»Amoklauf in Hanau.«
»Schüsse in Hanau: Die Polizei bestätigt elf Tote.«
»Mehrere Tote nach Schüssen – Hintergründe unklar.«
»Amok in Shisha-Bars.«
Die Nachrichten fühlten sich an wie eine Lawine, die mich plötzlich überrollte und sprach- und atemlos machte. Schon wieder ein Anschlag, dachte ich, schon wieder Tote. Mit jedem Schluck Kaffee und jeder Nachricht, die ich las, wurde ich trauriger, fühlte mich hilfloser. Ich dachte an die Opfer, an ihre Freunde und Familien. Was mussten sie jetzt durchmachen? Welchen Schmerz und welche Angst mussten sie empfinden?
Ich fragte mich, wer der Täter war. Welchen Hintergrund hat er? Im Namen welcher Ideologie hatte er gehandelt? Wie viele andere Menschen auch, hatte ich den Drang, den Täter sofort einzuordnen. Die einen meinten zu wissen, dass der Täter Islamist war, andere waren sich sicher, es sei ein Flüchtling. Und wiederum andere behaupteten, es sei die Tat eines Rechtsradikalen gewesen. Alle suchten nach Bestätigung für ihr Weltbild.
Stopp!
War das, was ich gerade tat – vorschnell zu urteilen und Vermutungen anzustellen –, nicht genau das Gleiche? Das, was zu Spaltung in der Gesellschaft und Unsolidarität führt? Das, was ich immer wieder kritisiere? Dass solche Taten allzu oft dazu missbraucht werden, das eigene Weltbild zu bestätigen, und dabei immer die Opfer und ihre Familien vergessen werden? Die Kugeln, die diese Menschen getroffen hatten, hatten Menschen aus ihrem Leben und ihrer Familie gerissen, sie hatten Trauer, Wunden, Schmerzen, Ohnmacht und vieles mehr verursacht. Das alles würde durch das Wissen, ob der Täter Islamist oder rechtsradikal war, welches Tatmotiv er hatte und welche Ideologie dahinter stand, nicht milder oder schlimmer.
Während meine Gedanken kreisten, funktionierte ich irgendwie. Ich duschte, zog mich an, dachte an die Schulklasse, die ich gleich für den zweiten Teil eines Workshops treffen sollte, in dem es um Wertevermittlung und Demokratieförderung gehen sollte. Es war der10. Jahrgang einer Gesamtschule, Mädchen und Jungen gemischt, fast alle mit Migrationserfahrung, sehr heterogen in ihren Einstellungen, jedoch allesamt sehr sensibel, mit großer Wissbegierde und gleichzeitig enormem Redebedarf.
Ich dachte: Was mache ich hier eigentlich? Welche Situation werde ich dort vorfinden? Werden meine drei Kollegen und ich überhaupt in die Klasse reingelassen, oder sagt der Lehrer, er müsse die Stunden jetzt selbst übernehmen, um mit den Schülern über den Anschlag zu sprechen? Aus Israel kannte ich es nicht anders: Dort ist es üblich, dass die Schülerschaft, die Lehrer und die Sozialarbeiter nach solchen Anschlägen in den ersten Schulstunden trauern und Gedanken austauschen. Insgeheim hoffte ich, die Schule oder der Lehrer würde uns nach Hause schicken. Die Vorstellung, unvorbereitet mit Schülerinnen und Schülern, die ich kaum kannte, über eine Tat zu sprechen, von der ich gerade erst erfahren hatte, überforderte mich.
Ich setzte mich in mein Auto und sah plötzlich Bilder, die ich meinte, hinter mir gelassen zu haben.
Israel im Jahr2004: Das Land war zerrissen. Terror, Hass und Polarisierung bestimmten den Alltag. An einem regnerischen, kalten Morgen saß ich im Auto, der Verkehr bewegte sich nur sehr langsam. Ich wartete, dass die Ampel auf Grün schaltete, hörte Musik. Plötzlich kamen mir Menschen entgegengerannt und liefen an mir vorbei: Eltern, Kinder, Junge, Alte. Ich werde ihre Gesichter und d