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Als ich den Kies der Auffahrt erreichte und mich gerade in den Sattel schwingen wollte, ertönte hinter mir ein schriller Schrei.
»Mariiii-lee!!«
Ich fuhr erschrocken herum. Warum um Gottes willen war meine Mutter um diese Zeit schon wach?
»Mama, wie siehst du denn aus?«
Meine Mutter stand oben auf dem Balkon und schaute missbilligend auf mich herunter. Sie war in ihren seidenen Morgenmantel gewickelt, und ihr Gesicht war bedeckt von einer schwarzen Crememaske.
»Das Gleiche könnte ich dich fragen! Du musst sofort hochkommen!«
»Ich kann nicht, ich muss die S-Bahn kriegen!«
»Nimmst du eben eine später! Ich muss deine Taille abstecken!«
»Wie bitte?«
»Die Schneiderin! Ich habe es total vergessen, sie hat das Kleid geschickt. Wir müssen schauen, ob es auch passt!«
Ich atmete einmal tief ein und aus. »Mama, ich habe dir doch gesagt, ich brauche kein Kleid. Ich arbeite direkt neben Peek & Cloppenburg, ich kaufe mir einfach eins!«
Meine Mutter schnaubte nur. So antwortete sie immer, wenn das, was ich sagte, so abwegig für sie war, dass sie es keiner weiteren Antwort würdigen wollte. »Sie hatte deine Maße, und ich habe ihr gesagt, du magst Blau. Brauchst du eben nicht mehr einkaufen gehen, sei lieber dankbar. Es muss heute sein, sonst wird sie nicht fertig, die Gala ist schon übermorgen! Los, es dauert ja nur zwei Minuten!«
Ich wusste, dass es nicht nur zwei Minuten dauern würde, aber ich wusste genauso gut, dass Widerstand keinen Zweck hatte. Wenn die Stimme meiner Mutter diesen Ton annahm, konnte man nur strammstehen.
Ich ließ das Fahrrad fallen und zog mein Handy aus der Jeanstasche. Während ich die Stufen zur Haustür hinaufrannte, tippte ich eine Nachricht an meine Chefin Nadine.Werde die frühe Bahn nicht kriegen, sorry, Notfall mit meiner Mutter. Aber zur Präsentation bin ich da!!
Das will ich auch schwer hoffen! War die postwendende Antwort.
Hundertpro!
»Mariele!!« Das Schreien meiner Mutter ließ mich kurz zusammenzucken. »Bin ja schon da, jetzt kreisch halt nicht so!« Ich ließ den Schlüssel neben der Haustür auf den Boden fallen – eine alte Angewohnheit, von der ich sicher war, dass sie mit meinem ausgeprägten Fluchtinstinkt zu tun hatte, der immer besonders stark zu werden schien, wenn meine Mutter in der Nähe war – und lief nach oben, wo sie bereits im Schlafzimmer hin und her eilte. Auf dem riesigen Bett mit Blick auf den See lagen bunte Kleider übereinandergestapelt, mehrere Paar hochhackige Schuhe standen im Raum verteilt, und es herrschte allgemeines und ungewohntes Chaos.
»Mama, was bist du denn so gehetzt, es ist noch nicht mal sieben!« Ich ließ meinen Rucksack aufs Bett fallen und küsste meine Mutter aufs Ohr.
»Ich habe heute das Mittagessen mit den Frauen vom Charity-Verband. Oh, Vorsicht!« Meine Mutter drückte mich an sich, schob mich dann aber schnell wieder weg, damit ich die Creme auf ihrem Gesicht nicht aufs T-Shirt bekam.
»Ach, stimmt ja. Deswegen die Maske.«
»Aktivkohle! Ich muss alle Register ziehen, diese Frauen sind wie Hyänen. Letztes Mal hat Regina gesagt, dass ich ›ja schon viel besser‹ aussehe.Schon viel besser! Diese unverschämte Person!«
»Sie hat es sicher nett gemeint.«
»Nett. Die wissen gar nicht, was das ist. Sie haben mich nur aufgenommen, weil