Prolog
Haarlem, Niederlande, Oktober 1942
Keine Namen, so lautet das ungeschriebene Gesetz.
Bloß nicht die echten Namen!
Deshalb muss sie die Frau, die ihr Unterschlupf bietet, auch mit Merel anreden, was Amsel bedeutet. Sie selbst heißt nun Bientje, das Bienchen, und viel mehr als ihr Alter hat sie bislang nicht preisgegeben. Nur, dass sie aus Amersfoort stammt, ihre Eltern kurz nacheinander gestorben sind und sie danach zu ihrer Großmutter geflohen ist, die man bereits abtransportiert hatte, als sie atemlos an deren Wohnung eintraf.
Sie selbst ist ebenfalls schon amtlich registriert; die deutschen Besatzer suchen nach ihr – und wird man sie aufspüren, ist ihr Leben keinen Pfifferling mehr wert.
Merel ist ihre einzige Chance, die allerletzte.
Seit Tagen kauert Bientje nun schon in dieser kalten Dachschräge, in der sie nicht einmal richtig stehen kann, neben einem Wasservorrat, der unbarmherzig zu Ende geht, und inmitten von Krümeln des Schiffszwiebacks, den sie verschlungen hat, ohne auch nur ansatzweise satt zu werden.
Den Notdurfteimer in der Ecke kann sie kaum noch zum Pinkeln benutzen, so sehr ekelt sie sich davor. Allem anderen verweigert sich ihr Körper sowieso, und immer häufiger überfällt sie nun die Angst, sie könnte über kurz oder lang platzen, weil die Natur irgendwann doch ihr Recht verlangen wird.
Es ist so still, dass ihr der eigene Atem überlaut erscheint, und die Sehnsucht nach menschlichen Stimmen wird beinahe überwältigend. Singen möchte sie, zumindest summen, doch ihre Lippen bleiben fest verschlossen.
Wie allein sie sich fühlt!
Mittlerweile hat sie fast so etwas wie Freundschaft mit dem dreisten Holzwurm geschlossen, der sich schmatzend durch die alten Balken frisst, allein deswegen, weil er lebendig ist.
Ist es Tag oder doch schon wieder Nacht?
Die Armbanduhr an ihrem Handgelenk steht still, und Bientje hat jedes Zeitgefühl verloren. Reparieren kann die Uhr in Haarlem niemand mehr. Corrie ten Boom, die mutige Uhrmacherin, die viele Juden versteckt hat, sitzt schon seit Wochen imKZ.
Manchmal will Bientje losrennen und schreien, so laut sie kann, aber natürlich tut sie das nicht. Keinen einzigen Mucks, das hat Merel ihr eingeschärft.
Wenn sie dich finden, sind wir beide dran.
Eigentlich hätte Merel längst schon wieder bei ihr gewesen sein müssen, mit frischem Wasser, neuem Essen und vor allem einem sauberen Eimer, aber sie komm