Kapitel 1
Lüneburger Heide, Mai 1914
Der Tag war kühl gewesen, und ein frischer Wind hatte Sprühregen über das Land geweht. Jetzt aber war die Wolkendecke aufgerissen, und die Abendsonne ließ die roten Backsteinmauern von Seydell warm leuchten. Das Innere des großen Herrenhauses erstrahlte festlich im Licht der unzähligen Kerzen, deren Flammen sich in den Kristallprismen des Kronleuchters spiegelten.
Luise lächelte und nippte an ihrem Champagner. Die Musik, die Gäste, das Essen und nun sogar das Wetter, alles war perfekt für die Verlobung ihrer Tochter. Es gab nur zwei Wermutstropfen: Der eine war das Fehlen ihres ältesten Sohnes Robert, der andere die Anwesenheit dieser Dirne Rebekka Stein, die in ihrem geschlitzten Kleid nach der neuesten Tango-Mode nicht einmal versuchte, den Schein zu wahren. Doch davon würde Luise sich den Abend nicht verderben lassen, sie war viel zu dankbar.
Luise fing Anna-Marias Blick auf, die selig lächelte. Wie sehr hatte Luise sich in den vergangenen Jahren gewünscht, ihre Tochter so glücklich zu sehen, doch meistens vergeblich. Sie wusste nicht mehr, wann Anna-Maria das Lächeln verloren hatte. Eines Tages jedoch war ihr aufgefallen, dass das Mädchen an der Schwermut litt und immer trübsinniger wurde. Luise hatte alles versucht, um sie aufzumuntern. Sie war mit Anna-Maria nach Berlin gereist, wo sie Konzerte und Ausstellungen besucht und im Kaufhaus Wertheim Kleider und Hüte nach der neuesten Mode gekauft hatten. Vergeblich. Luise wollte ihre Tochter auch nach Paris schicken, fest davon überzeugt, dass diese Stadt jedes Mädchen glücklich machen musste. Doch Anna-Maria hatte sich strikt geweigert. In ihrer Verzweiflung suchte Luise sogar einen Arzt auf, der ihrer Tochter Medikamente verschrieb, doch die hatten das Leiden bloß verschlimmert.
Und dann waren sie im vergangenen Sommer zum Abendessen bei der Familie Klimmeck gewesen. Lothar Klimmeck war Staatsanwaltschaftsrat in Lüneburg, er und Ludwig kannten sich von den Treffen des Alldeutschen Verbandes. An dem Abend hatte Anna-Maria Klimmecks Sohn Enno kennengelernt, der in Jena Jura studierte, und seither war sie wie ausgewechselt. Plötzlich konnte sie wieder lachen, ihre Wangen schimmerten rosig, und ihre Augen glänzten.
Deshalb hatte Luise ihren Mann dazu gedrängt, sofort der Verlobung zuzustimmen, obwohl Anna-Maria erst siebzehn war. Mit der Heirat würden die beiden ohnehin warten, bis Enno das Studium beendet hatte.
Luise trat zu ihrer Tochter. »Glücklich?«
»Ich könnte die ganze Welt umarmen!« Anna-Maria strahlte Luise an. »Ist Enno nicht wunderbar, ist er nicht der beste Mann, den eine Frau sich wünschen kann?«
Luise lächelte. »Das ist er, mein Kind.«
In ihren Augen war Enno Klimmeck ein eher unscheinbarer junger Mann, schmal gebaut und mit einem kindlichen Gesicht, dem man nicht ansah, dass er bereits zweiundzwanzig war. Seine äußere Erscheinung passte zu seinem Wesen. Er war ein gutherziger,