Wolf-Dieter Storl, Sie kommen gerade von einem Seminar, das Sie in der Nähe von Basel gegeben haben. Wie können wir uns das vorstellen?
»Wenn du etwas vom Bambus willst, dann gehe zum Bambus«, sagte Basho, der Haiku-Dichter. In den Seminaren gehen wir immer nach draußen. Wenn wir unterwegs sind, lassen wir uns von den Pflanzen selbst führen; einige sprechen einen an, einige halten einen an, jemand bleibt stehen, plötzlich bleibt die ganze Gruppe stehen … Und das Schauen wird tiefer und tiefer. Prinzipiell sind dies zugängliche Welten, die uns im Alltag aber oft verschlossen sind.
Gibt es Möglichkeiten, sich selbst einzustimmen, damit uns diese Welten zugänglicher werden?
Ja. Diese Welten sind zwar immer da, aber wir sind meistens zu beschäftigt und sind selten im Hier und Jetzt. Wir überlegen uns dauernd, was wir noch zu tun haben oder ob wir zum Beispiel etwas falsch gemacht haben. Wir sind nie ganz da, sondern gedanklich meistens in der Zukunft oder in der Vergangenheit. Sind wir jedoch ganz präsent, dann zeigen sich diese Welten unvermittelt. Es kann auch nur ein Wassertropfen sein, der uns einlädt zu schauen. Ganz besonders ist natürlich der Moment, wenn eine Blüte sich öffnet.
Zwischendurch in der Hektik des Lebens innehalten, das ist kein langer Prozess. Wir können auch nur wenige Sekunden in die Zeitlosigkeit eintauchen und das Wunder darin sehen, um dann wieder aufzutauchen und in der alltäglichen Welt zu funktionieren. Und plötzlich sehen wir die Götter – in einem Menschen, in der Aura eines Menschen oder in einem Tier. Das kann sogar in einer kleinen Ameise sein.
Das mutet fast wie im Märchen an – das Göttliche sehen wir ja nicht materiell. Sind das einfach Stimmungen und Resonanzen, die da wahrgenommen werden?
Das Problem ist, dass wir häufig an den Worten hängen bleiben. Die Sprache ist zwar ein Werkzeug des Geistes, sie ist jedoch oft sehr beschränkt. Wenn wir von Elfen sprechen, entwickeln wir Kitschvorstellungen von Elfchen mit Libellenflügeln. Zutiefst geht es jedoch um die Wahrnehmung der Seele von wirklich vorhandenen Wesen, von ätherischen Lebenskräften und von Beseeltem.
Die moderne Welt geht aber von einer rein materialistischen Grundlage aus.
Sie geht von Energie und Masse aus – das ist die Wirklichkeit. Intelligenz oder Gefühle werden als Epiphänomene betrachtet; dennoch gehören sie zum Sein, zum Bewusstsein, genauso wie Energie und Masse. Auch wenn es märchenhaft klingt – wir leben tatsächlich in einer märchenhaften Welt! Wir leben in einer Zauberwelt. Wir leben in einer wunderbar magischen Welt, und wir können diesen Zugang wiederfinden.
Märchen sind nicht einfach Aberglaube oder psychologische Projektion. Wir leben in einer beseelten Welt. Das Wort Märchen finde ich ganz wunderbar. Es bedeutet Mär, eine Botschaft aus anderen Dimensionen. Sie sind existent, wir nehmen sie jedoch meist nicht wahr. Wenn Schamanen in die Natur gehen und mit ihrer Seele bewusst und wach diese Welten erleben – wie können sie davon reden, wie können sie das Geschaute den Menschen mitteilen, den Menschen, die so ganz und gar in ihren Problemen und Projektionen gefangen sind? Sie müssen Worte und Bilder finden, die märchenhaft klingen. Es sind jedoch wahre Botschaften von anderen Dimensionen. Die meisten kennen das Weihnachtslied »Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär«. Dem Autor Martin Luther lag es sehr fern zu sagen, es sei nur ein Märchen. Es sind Botschaften aus transzendenten Welten – die nicht weit weg, sondern immer da sind. Ein Märchen ist eine Kunde davon.
Sie sagen, diese Welten seien nicht weit weg. Trotzdem fühlen sich heute viele Menschen getrennt davon. Dieses schwer zu ertragende Gefühl innerer Isolation ist heute ein großes Problem, insbesondere in den Industriestaaten.
»Getrenntsein« ist der Ursprung des Wortes Sünde. Sünde bedeutet nicht, jemand hat etwas Böses getan und nun muss er sich schuldig fühlen. Sünde heißt: Man ist abgesondert. Ab-sondern. Das Teilhaben an dem