Kapitel3
Kochstraße, Berlin, Deutschland
Tom Bayne ging mit eiligen Schritten die Kochstraße entlang und sah das für Berliner Verhältnisse recht große Hochhaus vor sich in den Himmel ragen. Das Hochhaus an der Ecke Kochstraße und Charlottenstraße erhob sich dort, wo die Kochstraße zur Rudi-Dutschke-Straße wurde. Dahinter kam das Axel-Springer-Gebäude. Der Springer-Konzern hatte sich extrem geärgert, dass die Straße ausgerechnet nach dem Mann umbenannt wurde, der bei den 68er-Demonstrationen einer der größten Feinde der verhassten und angeblich systemtreuen »Springer-Presse« war. Immerhin hieß die Querstraße dahinter »Axel-Springer-Straße«. Tom kannte London, Hamburg und viele andere Großstädte, aber Berlin kam ihm nach wie vor komisch vor. Es war zwar eine Stadt voller Geschichte, aber komplett ohne Tradition, eine Stadt, in der fast alle viel zu viel Zeit hatten und damit überhaupt nichts anzufangen wussten. In den Zwanzigerjahren war Berlin eine Trendstadt der Welt gewesen. Jetzt, sagte man, ging die Stadt vomanything goes dieser Zeit zumnichts geht mehr. Viele sagten, Berlin sei pulsierend, aber der eigentliche Puls war der zwischen Berauschung und Ausnüchterung. Es wurde ständig gefeiert, obwohl es dazu eigentlich gar keinen Grund gab. Berlin-Schönefeld galt als schlechtester Flughafen der Welt, und Berlin war mehr als jede Stadt Abbild eines Deutschlands, das immer sprunghafter und moralisierender wurde, aber eigentlich nichts mehr zustande brachte. Manche Städte assoziierte man sofort mit einem bestimmten Beruf. Bei Hamburg war es der Kaufmann, bei Stuttgart der Ingenieur, bei San Francisco der Programmierer und bei New York der Banker oder Werber. In Berlin war es der Flaschensammler.
Gegenüber dem Gebäude befand sich das Arbeitsamt, der Ort, an dem viele Berliner in ihrem Leben am meisten Zeit verbrachten, doch für die Mitarbeiter der Firma in dem Hochhaus galt das nicht. Zum Arbeitsamt musste niemand, der für das Unternehmen in diesem Hochhaus arbeitete.
Am Ohr hatte Tom sein Smartphone und telefonierte mit seinem Vater in Hamburg, während er ständig Horden von Touristen auswich, die alle auf dem Weg zum legendären Checkpoint Charlie waren, wo es außer einem Wachhäuschen, falschenUS- und UdSSR-Soldaten und betrügerischen Hütchenspielern gar nichts zu sehen gab. Aber für die Millionen von Touristen, die jährlich nach Berlin strömten, schien das ausreichend zu sein, solange es genug Alkohol und keine Regeln gab. Und beides gab es in Berlin reichlich: keine Regeln und Alkohol und Drogen im Überfluss.
Tom war halb Deutscher und halb Engländer. Seine Mutter war Krankenschwester in England gewesen und hatte seinen Vater in Hamburg kennengelernt, der Stadt, in der auch die Beatles ihre ersten Erfolge gefeiert hatten. Da in den späten Siebzigerjahren englische Namen als cool galten, hatte Toms Vater Walter den Namen seiner Frau angenommen, obwohl das damals komplett unüblich war. Mary Bayne war gestorben, als Tom zehn Jahre alt gewesen war. Sie hatte ihn früh für englische Literatur begeistert, für Frankenstein von Mary Shelley. Das war eigentlich zu früh für einen Zehnjährigen, aber vielleicht mochte sie sie auch deswegen so gern, weil beide den gleichen Vornamen hatten. Shelley hatte dieFrankenstein-Geschichte auf einer Reise nach Genf geschrieben, die sie zusammen mit ihrem Mann Percy Bysshe Shelley und Lord Byron unternommen hatte. Da während der Reise die ganze Zeit schlechtes Wetter herrschte, hatten die drei sich vorgenommen, einen Geschichtenwettbewerb untereinander auszurichten. Dabei war unter anderemFrankenstein herausgekommen.
Besonders fasziniert hatte Toms Mutter Mary und später auch Tom die enge Verbindung zwischen Geburt und Tod, denn Mary Shelley hatte mehrere Kinder verloren. Es war nicht nur der Hinweis auf die Gefahr, die immer lauerte, wenn der Mensch Gott spielte, um die es inFrankenstein ging, sondern es ging auch um die Zerbrechlichkeit des Lebens, was vielleicht dazu geführt hatte, dass Tom zunächst Arzt geworden war.
Tom war nach dem Tod der Mutter bei seinem Vater in Ham