Der Wunschengel
von Monika Büchel
Charlotte sitzt am Küchentisch und rührt mit dem Löffel in einer Tasse Kaffee. Den braucht sie jetzt, nachdem sie an diesem 24. Dezember um die Mittagszeit nach Hause gekommen ist. Sie muss erst mal ihre Gefühle sortieren. Einerseits ist sie glücklich, anderseits …
Es war Mitte November, als sie aus der Zeitung von einer Aktion in der Vorweihnachtszeit erfuhr: Rat und Verwaltung ihres Ortes hatten beschlossen, im Rathausfoyer einen Wunschengel aufzustellen. An den hatten von karitativen Verbänden ausgesuchte Kinder aus sozial benachteiligten Familien einen Wunschzettel gehängt. Wer wollte, konnte sich nun als Wunschengel beteiligen.
Charlotte war von der Aktion sofort begeistert. Seit einem halben Jahr ist die ehemalige Krankenschwester in Rente und genießt ihre freie Zeit. Schon am nächsten Morgen machte sie sich auf den Weg zum Rathaus. Im Foyer angekommen, ergriff sie kurzerhand einen der Briefumschläge, die am „Wunschengel“ hingen. Ein klein wenig aufgeregt öffnete sie ihn und las auf einem Stück Papier: „Didl Maus Shal.“ Aha, das musste der Wunsch eines kleinen Mädchens sein, ging es ihr durch den Kopf.
Am frühen Nachmittag stattete Charlotte ihren Nachbarn in dem Vierfamilienhaus einen Besuch ab. Charlotte lebt allein und geht ab und zu gern auf ein Schwätzchen zu ihnen. Müllers sind beide über 80. Überschwänglich erzählte sie ihnen von ihrem Vorhaben. Doch die reagierten eher skeptisch als freudig darauf. „Das ist ja eine schöne Sache, aber wenn nun solche Asozialen in unser Haus kommen, das würde mir nicht gefallen!“, warf Herr Müller ein. „Nein, nein, das wird nicht passieren. Das ist alles doch ganz anonym“, versicherte Charlotte. Aber Herrn Müllers Worte brachten sie doch zum Nachdenken. Hatte er nicht recht? Musste man sich vor Menschen aus diesem Milieu nicht in Acht nehmen? Sollte sie den Wunschzettel besser wieder in den Briefumschlag stecken, vorsichtig zukleben und im Rathaus sagen, dass sie es sich anders überlegt hatte?
Aber dann machte sie sich später doch auf den Weg, um den Schal zu kaufen. Sie durchquerte den kleinen Park und bog dann in die Einkaufszeile ein. Im zweiten Warenhaus erstand sie einen rosa Diddl-Maus-Schal. Dann kaufte sie noch einige Süßigkeiten und erschien schon am nächsten Tag im Rathaus, um das liebevoll in Weihnachtspapier eingewickelte Geschenk abzugeben.
Zwei Tage vor Heiligabend ging sie wieder durch den Park. Der Schnee, der in der Nacht gefallen war, knirschte unter ihren Füßen. Da kam ihr ein kleines, zierliches Mädchen entgegen.
„Du hast aber einen schönen Diddl-Maus-Schal!“, redete Charlotte sie an.
„Der ist vom Wunschengel!“, antwortete das Mädchen.
Charlottes Herz machte einen kleinen Sprung. „Der ist sicher schön warm“, fuhr sie fort.
„Hm“, nickte das Mädchen und fragte: „Was machst du hier?“
„Ich komme öfter hierher, weil ich den Park so mag“, erklärte Charlotte. „Und warum bist du hier?“
„Mama hat gesagt, ich soll raus, weil ich sie nerve.“
„Das Mädchen hatte mich dabei unendlich traurig angeblickt“, erzählte sie Müllers Stunden später, weil sie dieses unglaubliche Glück,ihr Mädchen entdeckt zu haben, nicht für sich behalten konnte. „Stellen Sie sich vor, bei dieser Kälte hat es nur einen Pullover und eine Strickjacke darüber getragen, weil die Winterjacke schmutzig und die Waschmaschine kaputt ist.“
„Aber da haben Sie doch nicht wieder Wunschengel gespielt und sich angeboten, eine neue Waschmaschine zu kaufen, oder?“, fragte Herr Müller. Er lä