Der Besuch
Ruckartig erwachte die alte Frau aus ihrem Schlaf. Schon schien die Frühlingssonne durch die Risse in der Wand. Die Hühner draußen machten einen fürchterlichen Spektakel. Es war bereits heller Tag und sie hatte verschlafen. Dies war besonders schade, weil heute Freitag war, Yacoots’ allwöchentlicher großer Tag, und es gab noch viele Vorbereitungen zu treffen.
Sie erhob sich so schnell, wie ihr Rheuma es erlaubte. In den nächsten paar Stunden wartete noch eine Menge Arbeit auf sie: Brot kneten, Wasser von der Quelle holen, Feuer machen und das Zimmer fegen. Aber bei dem Lärm der Hühner konnte man ja nicht einmal nachdenken. Irgendetwas musste mit ihnen los sein. Sie humpelte zur Tür. Als sie sie öffnete, schlug ihr ein kalter Luftzug entgegen, sodass sie einen Moment lang die Augen schloss, während ihr die Hühner gackernd entgegenrannten. Als sie die Augen wieder aufmachte, war es schon zu spät. Eine kleine, zerlumpte Gestalt eilte barfuß den Hügel hinauf, und ein Blick ins Hühnerhaus verriet ihr, dass die Nester leer waren.
Das war ihr nun schon zum zweiten Mal passiert. Ihre Hilflosigkeit trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie wusste nicht, wer der kleine Dieb war; aber es musste etwas geschehen, und zwar bald, denn vom Verkauf der Eier lebte sie. Sie schaffte es damit gerade noch bis zum Markt, obgleich ihr der Rückweg bergauf einige Mühe bereitete. Manchmal fragte sie sich, wie lange das wohl noch so weiterging. Sie brauchte dringend Hilfe, aber niemand kümmerte sich um sie. Ihre einzige Tochter war mit einem wohlhabenden Geschäftsinhaber verheiratet, der sich seiner schäbigen alten Schwiegermutter zutiefst schämte. Dennoch gab er ihr hin und wieder etwas Geld.
Verdrießlich vor sich hin schimpfend schwang sie ihren Wasserträger über die Schulter. Auf dem Weg zur Quelle wurde es jetzt langsam wärmer. Sie wandte ihr zerfurchtes altes Gesicht der Sonne zu und fühlte augenblicklich allen Ärger von sich abfallen.
Die ersten Mandelblüten hoben sich wie rosa Wolken von dem silbernen Laub der Olivenbäume und den grauweißen Zweigen der Feigenbäume ab. Der Bach sprudelte und glänzte, und in einem Büschel Gras am Rand der Quelle öffneten sich die ersten Narzissen. Yacoots nahm ihren Duft schon wahr, bevor sie sie sah: Das war der Frühling. Sie hatte sich immer an allem Schönen erfreuen können, und obgleich sie alt war, wurde ihr dadurch leicht ums Herz. Sie vergaß den Dieb und dachte nur noch daran, dass in zwei Stunden Nadia kommen würde, und dann würde sie die Worte des Buches hören, das Wort Gottes.
Die Eimer waren schwer und sie war müde, als sie zurückkam. Aber sie konnte sich jetzt nicht ausruhen, denn alles musste rechtzeitig fertig werden. Sie setzte den Kessel auf das Holzkohlebecken und trug es nach draußen, damit der leichte Frühlingswind die Glut anfachte.
Währenddessen knetete sie den Brotteig. Dann putzte sie den Fußboden, schüttelte die Binsenmatte aus, fütterte die Hühner und polierte ihr kostbares Bronzetablett. Sie wollte nicht eher essen oder trinken, bis Nadia kam, denn zweimal zu frühstücken konnte sie sich nicht leisten. Aber die Freude gab ihr Kraft und sie arbeitete schnell, denn die Arbeit am Freitag war keine gewöhnliche Arbeit. An anderen Tagen war sie eine einfache alte Frau, die sich mit ihrer Hausarbeit abmühte. Aber freitags war sie eine Gastgeberin, die ein Festmahl vorbereitete.
Das Wasser begann zu kochen und der Teig in der schweren Bratpfanne war sorgsam gewendet worden. Das Zimmer war erfüllt von dem Duft nach Mais und warmem Brot. Sie schob ihren niedrigen runden Tisch ins Sonnenlicht am Eingang und stellte Kaffeetopf und Gläser darauf. Dann zog sie die Kiste unter ihrem Bett hervor und nahm das Buch heraus. Ihre Finger berührten es ehrfurchtsvoll und mit Zittern. Es war ein schäbiges, abgegriffenes kleines Buch mit einem ausgebleichten Pappdeckel; sie besaß es schon seit fünfzehn Jahren.
Sie stammte nicht aus den Bergen, sondern war am Mittelmeer aufgewachsen. Dort hatte sie auch als verheiratete Frau gelebt und eine Tochter mit Namen Anisa zur Welt gebracht. Aber ihr Mann hatte sie verlassen, als das Kind noch klein war. Deshalb hatte sie für eine Spanierin gearbeitet, von der sie sehr gut behandelt wurde. Keine hatte die Sprache der anderen verstanden, abgesehen von einige