: Alexandra Borchardt
: Mehr Wahrheit wagen Warum die Demokratie einen starken Journalismus braucht
: Duden
: 9783411913060
: Duden - Sachbuch
: 1
: CHF 12.60
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 208
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Krise des Journalismus geht uns alle an. Ausgerechnet in einer Welt der Überinformation herrscht Verständnislosigkeit zwischen denen, die Orientierung suchen, und denen, die sie von Berufs wegen bieten sollen. Das Wort 'Lügenpresse' ist der in Wut gekleidete Ausdruck davon. Wenn sich aber Bürger und Journalisten als Gegner betrachten, nutzt das vor allem denjenigen, die ihre Machtinteressen durchsetzen wollen. Populistische Politiker, autokratische Regierungschefs, selbstherrliche Firmenlenker und selbst ernannte Experten profitieren davon, wenn Kontrollinstanzen wie die Medien diskreditiert werden. Den Schaden hat die Gesellschaft. Dabei ist gerade dann, wenn Demokratien unter Druck geraten, starker Journalismus existenziell. Alexandra Borchardt, seit mehr als 25 Jahren Journalistin und Medienbeobachterin, erläutert, wie es so weit kommen konnte. Sie zeigt auf, wie die Digitalisierung die gesellschaftliche Kommunikation und den Journalismus verändert hat. Und sie beleuchtet, was passieren muss, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen und neues aufzubauen. Denn sie ist überzeugt: Menschen und Medien müssen Verbündete sein, um die Gesellschaft zu gestalten.

Alexandra Borchardt ist Autorin, Dozentin und Keynote-Speakerin und war mehr als zwei Jahrzehnte lang im tagesaktuellen Journalismus tätig, zuletzt als Chefin vom Dienst der Süddeutschen Zeitung. Sie ist Senior Research Associate am renommierten Reuters Institute for the Study of Journalism der University of Oxford, wo sie Fortbildungsprogramme für leitende Journalisten und Medienmanager entwickelt hat. Zuletzt erschien von ihr das Buch Mensch 4.0 - Frei bleiben in einer digitalen Welt (2018). Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

»ICH BIN JOHN DOE.«
WARUM JOURNALISMUS UND DEMOKRATIE ZUSAMMENGEHÖREN

Die Gesellschaft besser machen: auf dem Marktplatz der Information

Bastian Obermayer war gerade dabei, die Betten frisch zu beziehen – ein Virus hatte seine Frau und seine Kinder niedergestreckt –, da meldete sich die Quelle: »Hello, this is John Doe. Interested in data?« Ob dies per Mail, Textnachricht oder Telefon geschah, ob Mann oder Frau, all das verrät der Investigativjournalist derSüddeutschen Zeitung bis heute nicht. Denn die Quelle verdient höchsten Schutz.1 An jenem Abend Anfang 2015 konnte Obermayer nicht ahnen, dass diese Kontaktaufnahme in die bislang größte investigative Recherche weltweit münden würde, die »Panama Papers«.2

Es begann ein Jahr der Recherche, die selbst innerhalb der SZ-Redaktion geheim gehalten wurde. »Manche Kollegen hatten uns schon gefragt: Was macht ihr eigentlich so beruflich?«, erzählt Obermayer später in einem Imagefilm für dieSZ. Denn zum Tagesgeschäft trugen er und sein Kollege Frederik Obermaier in dieser Zeit kaum etwas bei. Unter dem Dach des Internationalen Konsortiums Investigativer Journalisten werteten sie stattdessen zusammen mit 400 Journalisten aus 80 Ländern insgesamt 11,5 Millionen Dokumente mit 2,6 Terrabyte Daten aus. Am 3. April 2016 wurden schließlich die ersten Erkenntnisse zu dem gigantischen Netzwerk der Steuerhinterziehung rund um die Kanzlei Mossack Fonseca parallel in namhaften Medien weltweit veröffentlicht.

Daten alleine machen allerdings noch keinen Journalismus. Es ging also auch darum, die Geschichten dahinter zu recherchieren. Für die Reporter und Redakteure galt es beispielsweise herauszufinden, was von all den Aktivitäten als Verbrechen zählen könnte, was »nur« moralisch verwerflich und was Privatsache und deshalb keine Berichterstattung wert war. Bevor man jemanden zum Täter erklärt, ist schließlich höchste Sorgfalt geboten. Falsche Anschuldigungen sind nicht nur desaströs für die Betroffenen. Haben diese ausreichend Einfluss und entsprechende Anwälte, können Verleumdungsklagen schon mal ganze Medienunternehmen in den Ruin treiben. Daneben und als womöglich schlimmerer Effekt schaden sie der Glaubwürdigkeit der gesamten Branche. Was im Fall der Panama Papers im Nachhinein als Glanzstück des Journalismus gefeiert wurde, war deshalb für wohl alle Beteiligten psychisch enorm belastend. Für Reporter aus bestimmten Ländern konnte ihr Mitwirken an der Großrecherche sogar Lebensgefahr bedeuten.

Die Bürgerinnen und Bürger haben von dem hohen Einsatz profitiert. 1,2 Milliarden Dollar wurden weltweit in Staatskassen zurückgeholt. Es gab Hunderte Verfahren, Dutzende Gesetzesänderungen, die Premierminister von Island und Pakistan mussten zurücktreten. Die Kanzlei Mossack Fonseca, die im Zentrum der Geldschiebereien stand, machte dicht. »Die ganze Offshore-Industrie lebt jetzt im Post-Panama-Papers-Zeitalter, in dem alles wesentlich strenger ist«, resümiert Obermayer. »In den Köpfen der Menschen ist verankert: Offshore ist ein Problem.«3

Die Großrecherche hat so ziemlich alles abgeräumt, was an internationalen Journalistenpreisen verliehen wird, darunter den Pulitzerpreis, für jeden Reporter die höchste aller Ehren. Der Sinn von Journalismus ist es gleichwohl nicht, Egos zu streicheln und Leistungsschau zu betreiben. In der Demokratie fällt ihm vielmehr die Rolle zu, die Gesellschaft zu verbessern – im umfassendsten Sinne. Er ist den Bürgern verpflichtet, nicht dem Staat oder mächtigen Privatinteressen. In einer entsprechenden Richtlinie des Europarats heißt es daher: »Qualitätsjournalismus mit seiner Verpflichtung, nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Präzision, Unabhängigkeit, Transparenz und Menschlichkeit zu streben und als öffentliches Gut Verantwortlichkeit in allen Bereichen der Gesellschaft zu fördern, ist wie eh und je existenziell für die Funktionsfähigkeit von Demokratien.«4

Während Medien in autoritären Regimen vor allem dazu eingesetzt werden, Macht zu legitimieren und zu stabilisieren, ist es ihre Aufgabe in der Demokratie, die vielfä