1
Es war mitten am Nachmittag eines heißen Julitages. Beinahe alles Leben in der ausgedörrten Landschaft war in Schlaf gesunken.
Die schwarzen Schafe, für die das Tal berühmt war, drängten sich: unter den Pappeln, und die Erntehelfer schlummerten im Schatten von Getreidegarben oder unter ihren hölzernen Karren.
In den stattlichen Landhäusern, die hoch über dem Weideland lagen, schliefen die wohlhabenden Grundbesitzer, Bauern und Wollhändler tief und fest auf ihren bequemen Lagern, während ihre Sklaven im Hof mit schlechtem Gewissen dahindösten.
Nur oben in der Bergschlucht, dort, wo die Luft über den glühenden Felsen flimmerte, bewegte sich etwas. Ein braun gebrannter zwölfjähriger Junge, nur mit einem Lendentuch und Sandalen bekleidet, kletterte mit der Anmut und Behändigkeit einer jungen Wildkatze einen steilen Hang der Felsschlucht hinauf. Es kümmerte ihn nicht, dass ihm der Schweiß übers Gesicht strömte oder dass die Felsen seine Hände wund scheuerten, denn dies war die Stunde, in der er frei war.
Vom frühen Morgen bis zum späten Abend gehörte er seinem Herrn und war ihm nach außen hin untertan. Doch in dieser Stunde gehörte er sich selbst! Da atmete er auf! Da lebte er erst wirklich und eroberte sich die Welt.
Hier, in den felsigen Schluchten, konnte ihn nichts aufhalten. Im Winter bahnte er sich Wege durch die Schneewehen, und im Frühling trotzte er den tosenden Wasserfällen. Im Sommer ließ er sich nicht von der sengenden Nachmittagsglut entmutigen, sondern kletterte unbeirrt weiter. Er warf dabei immer wieder einen Blick auf die Sonne, die jetzt westlich von ihm stand. Er wusste, dass er heimkehren musste, sobald der Schatten des riesigen Felsens über ihm den Rand des Olivenhains unten im Tal erreichte. Aber er hatte immer noch Zeit genug, um bis zu der alten, umgestürzten Kiefer zu klettern, die den Hohlweg versperrte, und um in das klare Gewässer zu tauchen, das dahinterlag.
Die Bergschlucht verengte sich jetzt, und die Kiefern, die verkümmerten Eichen und die Wacholdersträucher warfen ihre Schatten über den Hohlweg. Der Fluss hier oben war nur ein schmaler Bach, aber er war kühl und erfrischend. Der Junge spritzte sich das Wasser übers Gesicht und über den Körper und fühlte, dass er noch den ganzen Tag so weiterklettern könnte. Er sehnte sich immer danach, noch weiter hinaufzusteigen – bis hin zum Bittersalzsee, wo die Wermut-Blumen wuchsen und wo der Fluss Lycus entsprang, ja, bis hinauf zu den Schneefeldern des Berges Cadmus – aber ach, der Schatten kroch schon auf den Olivenhain zu, und sein Herr würde bald anfangen, sich in seinem Nachmittagsschlaf zu regen. Er murmelte einen Fluch und spuckte wütend aus.
Nun, die Zeit reichte immerhin noch, um kurz etwas in dem grün schimmernden Teich zu schwimmen, der so tief war, dass er niemals austrocknete. Er kletterte auf die umgestürzte Kiefer und hielt plötzlich erschrocken inne. Der Mund blieb ihm offen stehen, und seine Augen weiteten sich vor Furcht. Denn dort auf dem Baumstamm saß ein kleines Mädchen, ließ ihre Beine ins Wasser hängen und sang leise vor sich hin.
Sie mochte neun oder zehn Jahre alt sein, war klein und schmal und hatte dunkles Haar, das ihr bis zur Hüfte herabhing. Ihre Wangen waren von der Hitze gerötet, und sie hatte den Schoß voller Blumen, die sie am Flussufer gepflückt hatte: welkende Witwenblumen, Löwenzahn und Vergissmeinnicht. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie den Jungen gar nicht bemerkte, der sich ihr vorsichtig näherte.
Wer mochte sie nur sein? Ihre Tunika war von kostbarem Stoff. Sie trug wunderschöne, geflochtene Sandalen und benahm sich wie eine kleine Königin. Er beobachtete sie aufmerksam, kroch weiter auf dem Baumstamm voran und überlegte, wer sie wohl sein mochte. War sie vielleicht eine Tochter der Göttin Kybele, der großen Mutter der Natur, in deren Arme die Toten zurückkehren – wie Kinder, die nach Hause eilen? – Nun, wenn sie das war, dann hatte er auf jeden Fall nichts zu befürchten. Ein böser Geist war sie bestimmt nicht! Er schob sich noch ein wenig näher heran. Da knackte ein trockener Zweig unter seinem Fuß.
Sie fuhr zusammen und blickte auf, verriet jedoch weder Überraschung noch Furcht. Sie war ein vernünftiges Kind, und ein Junge war für sie eben bloß ein Junge.