Ein wenig aufgequollen sitzt Tom vor mir. Sportlicher Typ. Tadellos gekleidet. Makellose Turnschuhe. Noch habe ich wenige Eindrücke von meinem Gegenüber, es ist das Erstgespräch in meiner Praxis. Jedenfalls ist da ein unterdrückter Zorn oder eine Unzufriedenheit in ihm – was es auch ist, es will raus.
Seit Wochen könne er nicht mehr schlafen, klagt er, im Büro nur Neider, all diese jungen Nixkönner, die an seinem Stuhl sägen würden. Eine Vorgesetzte, die keine Ahnung habe und ihm keine Beachtung schenke. Ein Chef, der zu schwach sei und der ihn nicht ernst nehme. Er sei der Einzige, der den Durchblick habe. Nur höre niemand auf ihn. Dabei habe er dieses große Potenzial, richtig durchzustarten. Das wisse er. Das sei ja offensichtlich. Der ganze Laden laufe nur, weil er da sei. Ohne ihn würde alles zusammenkrachen. Keine Wertschätzung. Niemand danke es ihm. Und wenn er abends nach Hause komme, würden die Zwillinge nur am Handy hängen und die Frau sei mit ihren Freundinnen unterwegs. In so einer lächerlichen Selbsthilfegruppe. Die reden da über ihre Gefühle. So ein Quatsch! Im Kühlschrank stehe meist was zum Aufwärmen. Ständig müsse er sich um alles selbst kümmern. Das sei alles so verdammt anstrengend. Koste ihm viel Energie. Er habe ja schließlich auch Gefühle und Bedürfnisse. Wer kümmere sich um die?
Tom brauche jetzt von mir eine Lösung. Ein Rezept, wie er damit klarkomme, dass die anderen so ungeheuerlich schlecht mit ihm umgingen. Schließlich sei ich ja der Experte.
Ich höre ihm aufmerksam zu, nicke, schweife gedanklich manchmal ab, denn ich kenne das alles nur zu gut. Ich arbeite seit Jahren mit narzisstischen Klienten – und ihr Leid an der Welt ähnelt sich frappierend. Aber nicht nur deswegen kommen mir seine Gedanken so bekannt vor. Die Wahrheit ist: Ich bin selbst Narzisst. Und ich weiß genau, wie er sich fühlt. Ein durchgehendes Gefühl der Unzufriedenheit und eine ständige unterschwellige Angst vor dem Scheitern durchziehen Toms Geist. Dabei ist es ein kurz anhaltendes Glück, eine Chance, dass Tom in meine Praxis fand, denn die meisten Narzissten halten wenig von Psychotherapie. »Ich? Eine Therapie machen? Nee, die anderen gehören in Behandlung! Die anderen sind das Problem.«
Doch Toms Ersttermin blieb ein fruchtloser Zufall. Ich sage ihm noch, dass ich es großartig fände, wenn er beim nächsten Mal nicht von den anderen Leuten, sondern mal von sich selbst sprechen würde. Sonst könne ich ihm nicht helfen. Tom müsse lernen, seinen eigenen Anteil am Geschehen zu sehen. Also grundsätzlich mal lernen, den klaren Blick auf sich selbst zu richten.
Mit Plattitüden und Kalendersprüchen komme er klar, die höre er von seiner Frau ständig, reagiert Tom abfällig. Seine Frau Tina, kommentiert er mit ekelverzerrtem Gesicht, sei eine unmögliche, arrogante Frau. Sie habe die Zwillinge nicht im Griff und habe befremdliche Ansichten über das Leben. Er sei von ihr total enttäuscht und habe alles getan, um ihr ein Leben im Luxus zu schenken. Aber sie nutze ihn nach Strich und Faden aus. Vermutlich gehe sie längst mit irgendeinem Trottel fremd.
Von einem Fachmann habe er übrigens mehr erwartet, fährt er wutentbrannt fort, steht auf und geht grußlos. »So ein Blödsinn«, höre ich ihn noch auf dem Flur stöhnen.
Tom würde nicht wiederkommen. So oder so ähnlich unglücklich verläuft manch ein Ersttermin, gerade wenn narzisstische Klienten schwer anzufassen sind. Na ja, ich bin halt als Therapeut auch nicht so perfekt, wie meine anspruchsvollen Narzissten es von mir erwarten.
Als Psychiater und Psychotherapeut halte ich die Identität meiner Patienten geheim, damit diese geschützt sind. Daher habe ich die Namen meiner Patienten geändert und mir erlaubt, ihre Biografien und Wesenszüge zu mischen, zu verfremden und zu fiktionalisieren. Obwohl dabei ausgedachte Personen herausgekommen sind, sind deren Geschichten wahr, denn es geht stets um reale Begebenheiten, mit denen ich mich als Therapeut beschäftigt habe. Viele Narzissten würden sich in diesen beiden Archetypen wiedererkennen.
Ich werde Ihnen viel über das Narzisstenpaar Tom und Tina