Kapitel 1: Vom Ende aller Dinge
Gregory Boswick starrte in das Dunkel der Nacht, und das Dunkel starrte zurück. Zumindest kam es Greg so vor. Verflucht, seit wann war er so schreckhaft? Jedes Rascheln des Windes in den Büschen, jedes Plätschern des Wassers am Inselufer war eine Zerreißprobe für seine angespannten Nerven.
Und das alles wegen Mitch.
»Sind Sie wirklich sicher, dass Sie allein hier warten wollen, Sir?«, fragte Anslin. Es klang ungläubig – und mehr als ein bisschen angewidert.
Greg wandte sich um. Sein Assistent trug einen langen, braunen Mantel, der leicht im Nachtwind wehte. Hinter ihm konnte Greg die Skyline Manhattans glitzern sehen, so nah und doch wie aus einer anderen Welt.
Greg nickte seufzend. »Ganz sicher. Mitchs Nachricht war eindeutig: Er und ich, unter vier Augen auf Ellis Island.«
»Um Mitternacht, Sir?«
Verdammt, was wollte der Glatzkopf von ihm hören? Dass New York Citys oberster Mann weitaus Besseres zu tun hatte, als sich an einem gottverlassenen Ort wie diesem seine alten Knochen steif zu frieren? Dass dieser Hang zur Dramatik, den Mitch manchmal an den Tag legte, lächerlich war? Mitch war eben Mitch. Einem wie ihm widersprach man nicht, man rollte höchstens mit den Augen.
»Was der Mensch braucht, das muss er haben«, antwortete Greg gottergeben und winkte ab. »Gehen Sie ruhig, Anslin. Ich komme schon klar. Sowie die Besprechung vorüber ist, kehre ich aufs Boot zurück.«
Sie waren mit einer kleinen Jacht gekommen, die im Besitz der Stadt war. Normalerweise diente sie Empfängen und Partys, die die Grenzen des Protokolls sprengten, als extravaganter Rahmen.
Anslin nickte gehorsam und wandte sich um in Richtung Anleger. Nach wenigen Schritten verschmolz seine gertenschlanke Gestalt mit dem Dunkel, und Greg war allein mit der Nacht.
Schweigend schlug er seinen Kragen hoch und rieb sich die Hände. Die Kälte war wirklich unmenschlich. Verblüffend, wie stark sie sich von der Tageshitze, die jetzt im Sommer vorherrschte, unterschied. Nicht einmal neunzehneinundneunzig in den Armeezelten vor Kuwait war es nachts so kalt gewesen.
Wenn der Alte nicht bald auftaucht, dachte Greg grimmig,bin ich ein Eisblock.
Anslin, dieser Stiefellecker, hatte nicht unrecht: Was sie hier taten,war lächerlich. Mitch wollte vermutlich aus der Sache aussteigen. Warum sonst hätte er sich vor dem eigentlichen Termin melden sollen? Aber dafür hätte auch ein Anruf genügt oder ein Treffen irgendwo in Manhattan. Tagsüber.
Stattdessen schlich Greg nun zur Geisterstunde um die altehrwürdigen Mauern der ehemaligen Einwanderungsstation herum. Noch dazu um deren südliche Bauten, die von der Renovierung und Umgestaltung in ein Museum ausgenommen worden waren. Wo am Nordende der Insel roter Backstein, militärisch streng gestutzter Rasen und polierte Fahnenmasten dominierten, die ab Sonnenaufgang wieder von Heerscharen von Touristen heimgesucht würden, herrschten hier halbe Ruinen vor, deren Fenster wirkten wie dunkle, glotzende Augen. Dichtes Buschwerk wucherte wild.
Die Stille war beinahe ohrenbetäubend. Wären da nicht der Wind und die leise Andeutung von Verkehrslärm aus der Battery gewesen, die über den Hudson herüberwehten, Greg wäre sich vorgekommen wie der letzte Mensch auf Erden.
Langsam fuhr er mit der Hand unter den Mantel und tastete nach dem Revolver. Er führte stets einen bei sich, aus Prinzip. Als leitender Bürgermeister einer der größten Städte der Welt musste er wachsam sein, Bodyguards hin oder her.
Andererseits: War nicht auch das lächerlich? Vor wem fürchtete er sich denn? Etwa vor Mitch und dem Wind?
Greg zuckte zusammen, als seine Armbanduhr piepste. Punkt Zwölf. Weit und breit keine Spur von …
»Guten Abend, Mr Mayor.«
Im ersten Schreckmoment hätte er fast aufgeschrien. Dann fasste er sich, ignorierte sein wild pochendes Herz und drehte sich um. Fahler Mondschein fiel durch die Wipfel der Bäume und zauberte ein stetig wogendes Bild aus Nacht und Licht vor ihn. Inmitten dieses Bildes stand jemand.
»Mitch?«, fragte Greg und kniff die Lider enger zusammen. War das wirklich sein alter Partner?
»Erwartest du jemand anderen?«, erklang die vertraute Stimme. Noch immer konnte Greg sein Gegenüber kaum erkennen. Hier, wo nicht einmal mehr Straßenlaternen brannten, war alles Schemen und Schatten.
»Nein. Ich … ich hab dich nur nicht kommen hören.« Greg schüttelte den Kopf, verscheuchte die Skepsis. »Also, was gibt’s? Was kann nicht bis morgen warten und auf dem Festland besprochen werden? Warum dieser irre Aktionismus, hm?«
Wolken zogen vor den Mond. Die Schatten wurden wieder dichter. Fast schien es Greg, als stünde ihm doch niemand gegenü